Einen nach seinen eigenen Angaben „irrwitzigen Reisebericht in verschie-dene Abgründe“ hat uns dieser Leser zugesandt:
Neues Jahr, neues Glück – mit Reiselust und einem Reiseartikel vom Schwetzinger Spargelreisenden Andreas Lin letzten Sommer im Geiste inspiriert – wollte auch ich mich auf ein erweitertes Nahverkehrsabenteuer begeben. Der Lin‘sche Reisebericht über Unbilden, hochbelastete Nervenstränge bei Fernreisen mit dem realexistierenden deutschen öffentlichen Personennahverkehr nötigte mir Respekt ab – obwohl ich mich durchaus als nahverkehrsgeschunden bezeichnen darf. Über die Jahrzehnte habe ich mir ein dickes Portfolio an üblen Anekdoten erarbeitet.
Während es den Spargelreisenden Lin in östliche Gebiete drängte – Schrobenhausen im bayerischen Flachland – nahm ich mir vor, es einmal mit dem nordischen Flachland zu versuchen: Das niedersächsische Spargelmuseum in Nienburg sollte es sein – eine lokale Spargelkennerin würde mich durch dortige Lokale führen – so das Versprechen.
Mir wurde seitens der Deutschen Bahn freudig eine Fahrtdauer zwischen acht Stunden 30 Minuten oder 12 Stunden 40 Minuten sowie vier- bis sechsmal Umsteigen angeboten – ab 44 Euro. Ich entschied mich für die zähe Mitte, welche mit Lins Neun-Euro-Kracherkarte natürlich nicht mehr mithalten konnte. Derartige Wertebereiche kannte ich aus einer Praktikumszeit in Russland.
Gedacht, gekauft, gestartet – wunderbar, das Abenteuer konnte beginnen. Aus leidvoller Erfahrung war mir bewusst, dass beim ÖPNV pro offizieller Fahrtstunde zirka eine halbe für den „Extended real case“ zu addieren ist. Ich sollte schnell erkennen: ein Wert aus der Vergangenheit. Andere Züge mussten überholen; WC, Wlan und Weiche waren kaputt. Ankunft 20 Minuten verspätet – langes Warten. Der nächste Zug blieb wiederum kurz vor dem Marburger Bahnhof auf Höhe eines Parks stehen.
Laut drohendem Lokführer dürfe der Zug auch nach geraumer Wartezeit nicht verlassen werden – welche Szenen sich vor den defekten Zug-WC’s abspielten, lasse ich aus humanen und ästhetischen Gründen weg. Erschütternd. Progressive Zeitgenossen unter zivilem Ungehorsam öffneten eine Tür – und alle sprangen ins Grüne – dies erinnerte mich an Wochenenden in der Leningradskaja Oblast. Buschwerk und zahlreiche Bäume waren nun flugs belegt – das öffentliche WC im Park defekt – und so wurde mir von Ortskundigen der Weg zum Institut für Philosophie gewiesen.
Die Philosophie vor Augen, doch an einer vorgelagerten Baustelle strahlte mir in frischem Weiss ein Dixi-Klo entgegen. Später sollte mich die Nähe des sirenenhaft lockenden Würfels zu den geisteswissenschaftlichen Instituten an eine Sentenz aus Vergils Aeneis erinnern: „Was immer es sei, ich fürchte die Danaer, auch wenn sie Geschenke bringen.“ Ein Danaergeschenk. Dazu kann das Klo zwar nichts – sehr wohl aber dessen Inhalt: Beseelt lächelnd im Stuhlgangmodul niedergelassen, sollte mich ein spektakuläres Donnerwetter auf dem Plastikdonnerbalken erwarten.
Die Suche nach akzeptablem Papier führte zu „Das goldene Blatt“, „Viel Spaß“ – und „Gala“; Karadashians Werteorientierung, Hühneraugenpflaster-Werbung und vor allem der Hochadel sollten jedoch nicht an meinen Allerwertesten gelangen. Die obligatorische „Bild“ macht hintenrum zu viel Schwarz, aber darunter, lag die Schwetzinger Zeitung vom 3. September 2022. Ich begann die Wüterich-Zeilen zu lesen. Schon die ersten verwirrten Assoziationen weckten bei mir eine unbändige Freude am destruktiven Wahnwitz.
Triefende Verachtung von Feldversuchen der aktuellen politischen Klasse, seitens eines doppelt zu spät geborenen? Basaler Ärger über die zu invertierende Kohl’sche „Gnade der späten Geburt“? Zudem wurden wohl die originäre Idee und Umsetzung römischer Brot und Spiele nicht miterlebt und verstanden?
Der heilige Franziskus sprach mit den Tieren – einerlei, der verdrossene Schreiber plaudert mit dem Wetter – welches nicht dem Amüsement anheimgefallen sein soll. Wer wo wann wie viel CO2 eingespart hat, das treibt Heerscharen an Forschern um – Leserbriefschreiber Voigtmann schießt die qualitative Einordnung wie John Wayne lässig aus der Hüfte.
Missgünstig werden die Schichtführer in der Schaltzentrale über der Maschinenhalle des Wetters beäugt – und des Bedienens von Stellschrauben mit Kraft und Ideologie bezichtigt. Da pfeift der Meister und fordert den Frischling sogleich auf, eine Zehnerpackung Siemens Lufthaken zu holen. Wutschnaubend lässt Voigtmann ahnen: Er wüsste, an welchen Stellschrauben tatsächlich wie gedreht werden müsste. Natürlich bediente er die von ihm angedachten Stellschrauben von jedweder Ideologie befreit – ein Schelm, wer Gutes dabei denkt.
Ein Mann von Welt, auf allen Bühnen zu Hause – mit Kennerschaft weiß dieser, in welcher Lautstärke, sich welcher Rat äußerte. Meine Oma hätte gerufen: Junge, sammle kein unnützes Wissen. Woher mag wohl die immanent behauptete Vorstellung stammen, dass die Ein-Grad-Erhöhung der Durchschnittstemperatur akzeptabel, gar folgenlos wäre – gar ein Ende der Erkenntnisgewinnung vorliege?
Als gewiefter Exporteur von Eulen nach Athen, lässt er den Leser nicht im Unklaren, wer in Wahrheit schuld ist an der wachsenden Misere: die böse EU. Rotgrünversifftes, gewalttätiges Stellschraubendrehen. Nicht Wachstumsideologie – Herman Daly disputieren – ungezügelter Kapitalismus, Überbevölkerung, Ressourcen- und Energieverschwendung; nicht Gier und Bequemlichkeit des Menschen.
Der Begriff Europäer wird in Anführungszeichen gesetzt: Voigtmann‘sche Semiotik – genauer Pragmatik: die Verachtung in Zeichen. Ob es sich beim Verfasser um einen kaukasisch-weißen Anhänger Alexander Dugins – respektive Putins eurasischem Reich – handelt? Mit einschlägiger Wortwahl schießt er scharf: Es wird „geballert“; eine martialisch-militaristische Artikulation geprägt, vom – für ihn wohl naheliegenden – Denken in Wällen: Atlantikwall, Westwall, jetzt der Nordwestwall – gebildet aus Windrädern im hohen Norden.
Imposante textliche Wetterkapriolen sollten meinen Aufenthalt in jener Bedürfnisanstalt in ungeahnte Sphären ausdehnen. Vor Neid erblassen Atmosphärenforscher und Artverwandte: Voigtmann identifiziert die exakten Lebens- und Wirkräume des Wetters, Höhen „von Wind und Wolken“ – und nebenbei auch Wirkungsgrade und Systemverluste technischer Anlagen.
Wie man aus Masten, in weiten Reihen gestellt, mit Dreiblattrotoren obendrauf, eine Wand kreieren kann? Da stellen selbst alte Parteitagsfahnen ein hochdichtes Gefüge dar. Ende des 18. Jahrhunderts, Anfang des 19. Jahrhunderts pflegte man gerne mal zu sagen „Vergesst Goethe, lest Rückert“ – analog drängt sich mir auf: Völker, hört des Voigtmanns Signale – schaltet eure stromfressenden Großrechner für die komplexen Simulationen ab.
Entsprechend seines Wissensstandes kann Energie vernichtet werden. Ich vermute, er hat den gesamten Physikunterricht geschwänzt. Gemäß des Dramatikers wird sodann „gefleht, gefleddert und geschröpft“; als „Kollateralschaden geprügelte Wolken ohne Regen“. Das Ende ist nah. Sturm brich los – und Volk, steh auf. Cassandra war gestern, Voigtmann ist heute.
Weissagung konkreter Wetterzukunft an konkreten Orten, „Wind und Feuchtigkeit“, welche dann an bestimmten Stellen „zum Stehen“ kommen? Hier eine Wolke in der Höhe, da ein Windrad. Sie muss also nach rechts – aber: Du kommst hier nicht rein. Nun alle zusammen in den Kreisverkehr.
Solches hochnotpeinliche Spielen dürfte schwerlich zu unterbieten sein. Möglicherweise hat Voigtmann zu viel Minecraft gespielt – und die virtuelle Bauklotzwelt extrapoliert, zur Realität erklärt? Vom Friedhof her höre ich seine Lehrer jammern: Es war alles umsonst. Aber das war beileibe nicht alles – es geht noch tiefer: „Schelmisch“ versucht er, einen umgetexteten alten Linken-Unfug-Schlager bonmont-mäßig anzubringen – Strom, Wald und Nahrung phrasenhaft gegeneinander aufzuwiegen; dieses bemühte Verwursten hat schon etwas Tragisches.
Die (Aga-)Kröte schlucken, oder sie doch lieber über Oder-Warthe-Bogen zum Brüderchen tragen? Voigtmann neigt seinen Zeilen zufolge wohl zum Schlucken. Das erschiene mir akzeptabel, würde nicht ein homöopathisches Minimum an Abwägungsobjektivität mit weggefuttert werden. In seinem irrsinnigen Wetterungetüm bewirken ein paar Hundert Meter hohe Windmühlen eine zwingende unmittelbare Beeinflussung einer Jetstream-Art, die in über einem Dutzend Kilometer Höhe, mit Hunderten von Stundenkilometern unterwegs ist. Der Epiker liefert weitere Erklärungen zu Eismassen, Regendefiziten – ich beschwöre flehend aus dem Plastikwürfel: „Klaus-Günther, erhöre die Thermodynamik!“ Was würde wohl ein Physiklehrer ihm zurufen? Falls die Stunde nicht ohnedies ausgefallen wäre, ginge der wohl freiwillig mit einem Joint in die Raucherecke.
Auf der Heide blüht ein kleines Blümelein – zack-zack-zack – das dadaistische Bauklotzwetter und zugehörige Abbiegevorschriften scheinen eine veritable Obsession von Voigtmann zu verkörpern – „äquatorial, Biskaya, Ahrtal-Überraschung“ – was für ein bizarrer Stuhlgang. Der Psychologe würde nun sagen: Gehen sie aus der Situation. Aber wohin? AfD-Wetter ist überall.
Im Gedankenstrudel verheddert und verfangen – bekam ich wohl nicht mit, dass ich immer wieder wild kichern musste, ob des absonderlichen Unfugs, der da niedergelegt war – und so kam es, dass man mir in der Plastikzelle zurief, ob denn alles in Ordnung wäre. Mein „Nein“ beruhigte die Beunruhigten offenkundig nicht.
Ich hatte den Spagat vom Fokus auf dem Lokus nach außerhalb zu legen, da klopfend nach meinem Befinden gefragt wurde. Ein Summary zum AfD-Wetter aus der Zelle sorgte für Erheiterung – und sollte später meine Eintrittskarte zur Institutsparty sein.
Meine biologische Natur forderte ihren Tribut – aber schließlich konnte ich, mit verringerter Gesamtmasse, jedoch mental signifikant beschwerter, das Kunststoffklosett verlassen und zur benachbarten Fakultätsparty folgen. Wir diskutierten zu Rammstein und Blumfeld – zum einen, anderen oder ganz anderen Bosch Lager – jene Wetteridee sowie hasserfüllte Wissenschafts-, Technik- und Politikverachtung.
Hiob, die Schlucke und Delirium mit Frazzkeller konnten zeitnah nicht erreicht werden, da Einheimische sichtlich überrascht wirkten, dass zwischen ihnen und ihren Lieblingslokalitäten die Lahn geruhsam vor sich hinfloss. Was Hiob anbelangte – dieser war bereits den ganzen Tag über mein gefühlter Weggefährte – und er vermittelte mir einen stets profund unzufriedenen Eindruck: Hiob – und auch Sisyphos – nutzen wohl seit längerer Zeit ein Nahverkehrsabonnement. Besser also ein gemütliches Bett im urigen Gasthaus „Del Castello“.
Der unfreiwillige Besuch einer Plastiktoilette führte mich nun tags darauf in die angenehme Freiheit des Individualverkehrs: Mitfahrt in der Limousine einer Wissenschaftlerin. Wir erörterten Surrogate und Feindbilder, Kompensieren sich auflösender oder wandelnder Gewissheiten, Komplexität der Moderne, Sehnsucht nach Einfachheit und führender Autorität. Und KI: ChatGPT könnte bisher plump postulierte Propaganda in zarte, preisträgerwürdige Lyrik hüllen; Texte erstellen, deren syntaktische Qualität und Kohärenz dazu verführen würden, Aufgaben zu lösen, perfide Manipulationskonzepte ausarbeiten zu lassen – Orwell, Gustave le Bon, Machiavelli – Teil II.
Der Bordcomputer meldete in Heidelberg 25 Kilogramm CO2-Produktion. Und ich werde erneut ein Nahverkehrsabenteuer zum Spargelmuseum nach Nienburg wagen.
Stefan Behme, Schwetzingen