Hockenheim. Ein dunkler Raum. Nur ein leerer Sessel im Lichtkegel, dazu das schwere Atmen eines unsichtbaren Menschen. Sekunden vergehen, dann sinkt ein Mann in den Sessel. Gezeichnet, erschöpft – körperlich wie seelisch. Er zündet sich eine Zigarette an, der Rauch steigt langsam nach oben, und mit brüchiger Stimme sagt er: „Brudi, mir geht’s gut.“ Gleich zu Beginn der viel diskutierten Dokumentation „Babo – Die Haftbefehl-Story“ wird klar: Dieses „Gut“ ist ein Kampfbegriff. Die Szene ist Auftakt zu einer schonungslosen Reise durch das Leben des Rappers Haftbefehl.
Die Geschichte des Antihelden Aykut Anhan, wie der Musiker bürgerlich heißt, erzählt von Aufstieg und Absturz, von Größenwahn und Selbstverlust. Sie zeigt, wie Erfolgsdruck, Ego und fehlende Grenzen zu einer Achterbahnfahrt führen können, deren letzte Station allzu oft der Abgrund ist. Haftbefehl ist ihm nur knapp entkommen – und nun steht die Frage im Raum, ob seine Biografie und seine Texte Eingang in den Unterricht finden sollen.
Darf ein Rapper, dessen Sprache so hart ist wie seine Vergangenheit, zum Bildungsstoff werden? Schülervertreter aus Anhans Heimatstadt Offenbach fordern, die Dokumentation und Haftbefehls Lyrics in den Lehrplan von Oberstufen aufzunehmen. Themen wie Migrationserfahrung, prekäre Wohnverhältnisse, Konflikte und Drogen seien etwas, mit dem immer mehr Jugendliche konfrontiert werden und damit biete sich im Unterricht eine „Alltagsnähe“, die Lernenden als relevanter erscheine.
Das Thema wird aktuell in den sozialen Medien heiß diskutiert. Aber auch am Gauß-Gymnasium in Hockenheim sorgt die Haftbefehl-Doku für Gesprächsstoff. Doch wie schätzen Bildungsexperten die Forderung aus Offenbach ein? Gauß-Rektorin Anja Kaiser, ihre Kollegin und Gemeinschaftskundelehrerin Jana Breiter sowie der bildungspolitische Sprecher des Landtags, Andreas Sturm (CDU) ordnen dies jetzt im Gespräch mit unserer Zeitung ein und sprechen über Chancen, Grenzen und die Frage, wie viel Realität Schule verträgt.
Hockenheimer Abijahrgang sieht Lebensrealität in Haftbefehl-Doku als gegeben
Kaiser hat das Thema bereits in ihrer aktuellen Abiturjahrgangsstufe J2 eingehend besprochen: „Die Resonanz der Schüler war, dass viele Aspekte der Doku tatsächlich die Lebensrealität von jungen Menschen abbilden. Außerdem gibt es wohl auch zahlreicher derartige Dokus, sodass diese keineswegs einzigartig ist. Aber es ist ein schmaler Grat zwischen dieser abgebildeten Lebensrealität und einer Glorifizierung von Themen wie Drogenkonsum oder sexueller Gewalt.“
„Babo - Die Haftbefehl Story“
Die Dokumentation beginnt mit einer Szene, in der Haftbefehl erschöpft im Lichtkegel sitzt und sagt, es gehe ihm gut – obwohl sichtbar ist, dass das Gegenteil der Fall ist.
Erzählt wird seine Kindheit in Offenbach, geprägt von schwierigen Familienverhältnissen, fehlender Stabilität und frühen Verlusten.
In seiner Jugend gerät er immer wieder in Kontakt mit Kriminalität, Gewalt und Drogen und sucht nach einem Platz in der Gesellschaft.
Die Musik wird zu einem Ausweg für ihn und er schafft es, sich in der Rap-Szene einen Namen zu machen.
Mit dem Erfolg kommen Ruhm, Geld und ein exzessiver Lebensstil, der jedoch starken Leistungsdruck mit sich bringt.
Die Doku zeigt, wie Haftbefehl immer tiefer in Drogenkonsum und psychische Belastung rutscht und die Kontrolle über sein Leben verliert.
Ein zentraler Schwerpunkt liegt auf seinem inneren Konflikt zwischen der Kunstfigur „Haftbefehl“ und dem Menschen Aykut Anhan.
Am Ende bleibt offen, wie sein Weg weitergeht – klar wird jedoch, dass Erfolg nicht vor inneren Abgründen schützt und der Kampf um sich selbst noch nicht abgeschlossen ist.
So habe man beispielsweise das Musikvideo vom Haftbefehl-Song „069“ analysiert: „Dort wird diese Glorifizierung sichtbar: Es wird Kokain konsumiert, hoch teure Autos reihen sich aneinander und zahlreiche Goldketten hängen den Protagonisten um die Hälse. So etwas als ,normal‘ in Schulen zu zeigen, ist gefährlich.“ Erschreckend sei, dass „Koks“ laut der Rückmeldung aus der Klasse bei jungen Menschen „in“ sei.
Doch es scheint auch abhängig von der Altersstufe zu sein: Jana Breiter, die mit ihrer ein Jahr jüngeren Klassenstufe J1 ebenfalls über dieses Thema gesprochen hat, bekam eine gegenteilige Rückmeldung: „Der jüngere Kurs war anderer Meinung und betonte, dass die Doku nicht die Lebensrealität widerspiegelt.“ „Trotzdem haben wir den Auftrag, aktuelle Themen zu behandeln und auch die Haftbefehl-Dokumentation bietet einige Möglichkeiten. Hier dürfen wir nicht die Augen verschließen“, so Kaiser.
Die Rektorin spricht hier vom Einsatz im Sinne der Prävention oder im Deutschunterricht als Gegenstand einer Textanalyse: „Aber eng begleitet und kompetenzorientiert. Wichtig ist, dass wir auf die Bedarfe der Schüler reagieren, also den Stoff nur behandeln, wenn es von der Klasse auch gewünscht wird. Eine Aufnahme in den Lehrplan würde diese Flexibilität nehmen und der Stoff würde zur Pflichtlektüre werden.“
CDU-Landtagsabgeordneter Andreas Sturm: Haftbefehl nicht in den Lehrplan aufnehmen
Hier stimmt auch Andreas Sturm zu: „Man muss von der Forderung aus Offenbach Abstand nehmen. So etwas muss die freie didaktische Entscheidung der Lehrkräfte bleiben. Man stelle sich vor, Haftbefehl wird in den Lehrplan aufgenommen – am Ende der Dokumentation ist nicht klar, wie es weitergeht – und ein Jahr später entscheidet er sich, noch einen Gang höher zu schalten, mehr Koks, mehr Ferraris. Diese Glorifizierung darf nicht in den Bildungsplan.“
CDU-Landtagsabgeordnete zieht hier den Vergleich zum US-amerikanischen Rapper Eminem, aus dessen filmischem Biopic „8 Mile“ man mehr hilfreichen Lehrstoff als aus der Haftbefehl-Doku ziehen könne: „In diesem Film wird klar die Geschichte des Rappers Eminem gezeigt: Empowerment, also der Prozess der Selbstbemächtigung und Befähigung, der Menschen hilft, mehr Kontrolle über ihr Leben und ihre Lebensumstände zu erlangen, ist dabei deutlich herauszuarbeiten. Währen bei Haftbefehl die Grenzen zwischen der Kunstfigur und der Person Aykut Anhan kaum zu erkennen sind. Hier muss man klaren Bezug schaffen.“
Heißt, die Unterschiede zwischen Kunstfigur und Privatperson müssen erkennbar sein – bestes Beispiel ist das erwähnte Musikvideo: Ferraris, Goldketten en masse und das öffentlich „Posen“ sind der Kunstfigur Haftbefehl zuzuordnen und nicht dem Alltag des Familienvaters Aykut Anhan. „Sollten sich die Lehrkräfte entscheiden, die Thematik im Unterricht zu besprechen, muss das vermittelt werden. Dies ist mit Sicherheit eine große Herausforderung.“
„Am Gauß bieten wir Projekte zur Prävention zu Themen wie Suchtproblematik und Leistungsdruck an. Die Schüler haben klargemacht, dass sie die Unterstützung von uns benötigen. Denn vieles aus der Doku, gerade aus Haftbefehls Kindheit, durchleben auch junge Menschen bei sich Zuhause. Hier sind wir stets nah an den Schülern und sehen deren Wunsch, hinter die Fassade zu schauen“, so Kaiser zu der Lebensrealität, die bei Haftbefehl gezeigt wird.
„Wir sind keine klassischen Lehrkräfte mehr, sondern auch in gewisser Weise Psychologen. Einen ganz wichtigen Aspekt im Schulleben nimmt auch die Schulsozialarbeit ein, auf die man nicht mehr verzichten kann“, gibt Jana Breiter Einblicke in ihren Beruf. Für Sturm ist ein Schulterschluss zwischen den verschiedenen Institutionen und auch den Eltern notwendig: „Vonseiten des Landes haben wir im G9 nun die Medienbildung eingeführt, wo eben Themen wie diese Dokumentation besprochen werden können.“
Außerdem arbeite man eng mit der Elternstiftung zusammen und fördere Familienzentren, um Eltern frühzeitig „abzuholen“: „Das kann schon in der Schwangerschaft beginnen, je früher man die Eltern einbezieht, desto mehr greift die Prävention.“ Auch in Sachen Schulsozialarbeit habe das Land keineswegs gekürzt, man sei sich bewusst, wie wichtig dieser Aspekt ist, so Sturm.
Der hessische Landtag hat der Forderung aus Offenbach indes bereits einen Riegel vorgeschoben, weshalb der CDU-Abgeordnete sicher ist, dass es nicht dazu kommen wird, dass Haftbefehl in den Bildungsplan aufgenommen wird. „Natürlich gibt die Doku viel her, es gibt einige Anknüpfungspunkte, doch bei Behandlung im Unterricht muss die soziale Wirklichkeit gegeben sein.“
Haftbefehl vs. Goethe: Klare Meinung von Hockenheimer Bildungsexperten
Abschließend räumt Sturm auch das Argument aus Offenbach, dass man die Schüler mit Haftbefehl eher erreiche als beispielsweise mit Goethe, aus der Diskussion: „Man darf die Klassiker und solche aktuellen Themen nicht gegeneinander ausspielen. Wir haben genügen Instrumente, um die Schüler abzuholen und klassisches mit neuem zu verbinden – ob Poetry-Slams oder Graphic Novels“ Kaiser springt ihm zur Seite und beschreibt, dass es in jeder Generation Kunstfiguren gab, die ähnliche Motive wie die jetzt diskutierten rund um Haftbefehl hatten.
Seien es die Beatles, Elvis Presley oder fiktive Charaktere in der Literatur. „Gute Beispiele sind Hermann Hesses Steppenwolf, wo der Hauptcharakter Harry Haller ebenfalls eine Zerrissenheit seiner Persönlichkeit durchlebt. Oder noch weiter zurück bei Goethe: Der Werther und sein Selbstmord hatten damals sogar eine Suizidwelle ausgelöst“, so die Rektorin.
Alle drei sind letztendlich gleicher Meinung: Eine Aufnahme von Haftbefehl in den Lehrplan darf nicht stattfinden, die Thematik bietet trotzdem einiges für den Unterricht und eine Behandlung muss im didaktischen Ermessen der Lehrkräfte bleiben. Ansatzpunkt muss eher bleiben, die in der Doku abgebildete Lebensrealität mit Prävention und Hilfsangeboten einzudämmen.
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Schwetzinger Zeitung Plus-Artikel Kommentar Haftbefehl-Doku im Unterricht: Möglichkeiten nutzen, aber ohne Zwang