Kurzgeschichte

"Faltvogelregen" von Vanessa Palumbo

Ein Soldat auf einer Mission, die die Welt verändern wird, und ein kleines Mädchen, das 1000 Papierkraniche faltet, um einen Wunsch frei zu haben: Haben sie beide den gleichen Traum?

Von 
Vanessa Palumbo
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Bild: istock © Getty Images/iStockphoto

Herr Doktor! Sie haben mir versprochen, alles in Ihrer Macht Stehende zu tun. Wir haben Sie von der anderen Seite der Welt geholt. Lassen Sie mich das nicht bereuen!“

Japan, 05.08.1945, 15.30 Uhr 40 km vom Epizentrum

Mühsam kämpft sich der Luftballon einen Weg in die Freiheit. Kurz lasse ich die Schnur los. Freudig steigt der Ballon gen Himmel, nur um im nächsten Moment brutal von mir eingefangen zu werden. Ich binde die Schnur um mein Handgelenk. Diesmal kommt er mir nicht davon.

„Soldat, sollten unsere Berechnungen stimmen, ist eine Explosion zu erwarten, wie die Menschheit sie noch nie gesehen hat. Der Ballon ist für das Model.“ Die Stimme des Kommandeurs hallt in meinem Kopf.

Ehrfürchtig streiche ich mit den Fingern die Linien auf der Karte nach. In einem schwarzen Kreis in der Mitte treffen sie sich zu einem höllischen Kunstwerk. Bald ist es so weit. Ich greife nach dem roten Stift auf dem Tisch und beuge mich über die Karte. Der Stift kratzt über das Papier, doch die Linien des Kreuzes, das ich durch den Kreis ziehe, bleiben weiß. Ich schüttele den Stift und versuche es noch mal. Weiß.



Japan, 05.08.1945, 16.15 Uhr 40 km vom Epizentrum

Die Klingel an der Tür läutet hell, als der Ballon beim Betreten des kleinen Ladens dagegen stößt. Eigentlich darf ich nicht hier sein. Sie sehen uns nicht gerne, aber dulden es. Irgendwie muss die Familie ja über die Runden kommen.

Der dunkle Tresen ist verwaist. Ich gehe zum Regal mit den Schreibwaren und greife nach einem roten Stift.

„Warum nimmst du einen roten Stift?“, fragt plötzlich eine zarte Stimme hinter mir. „Grün ist doch viel schöner. Schau!“ Überrascht drehe ich mich um. Neben dem Tresen, an einem schmalen Tisch, sitzt ein kleines Mädchen. Ich habe sie hier noch nie gesehen. Sie hält mir ein gefaltetes Stück Papier entgegen. Ein kleiner Vogel? Während ich mich ihr zögernd nähere, wandert meine Hand automatisch zu der Waffe unter meiner Uniform.

Langsam gewöhnen sich meine Augen an die Dunkelheit und ich knie mich neben ihren Tisch. Im schummerigen Licht blicken mir zwei sanfte braune Augen mit einem entwaffnenden Lächeln entgegen. Meine Hand rutscht von der Pistole.

Im nächsten Moment stehe ich in einem lichtdurchfluteten Zimmer. Die Sonne lässt die bunten Vögel an der Fensterfront leuchten. Zwischen ihnen: kleine Papierkrebse, die die bunten Vögel verzweifelt versuchen zu fressen. „Papi, warum musst du gehen?“, wimmert eine zarte Stimme und zwei braune Augen blicken sich tief in meine Seele. Meine Hand streicht über ihr viel zu schmales Gesicht „Ich bin nicht lange weg, mein Schatz, versprochen.“ Zwei kleine, warme Hände klammern sich schwach an meinen Arm. „Papi, sehen wir uns wieder?“

Der Brief meiner Frau kam nur wenige Monate später. Selbst der lange Postweg konnte die Tränen auf dem Papier nicht trocknen. Ich solle ihr ein paar Worte für die Beerdigung senden.

Doch zu diesem Zeitpunkt war die Beerdigung bereits vorüber.

Noch am selben Tag meldete ich dem Kommandeur, dass ich die Mission fliegen werde.

Eine kleine Hand berührt vorsichtig meinen Arm und ich zucke zusammen. „Willst du es auch versuchen?“, fragt das Mädchen und hält mir den grünen Faltvogel hin. Er ist nur wenige Zentimeter groß. Die filigrane Faltweise beeindruckt mich. „Nan desu ka? Was ist das?“, frage ich mit starkem Akzent.

„Tsuru. Ein Origami-Kranich. Ich habe schon 897 gefaltet“, erklärt sie stolz und zeigt auf eine große Kiste voller Faltvögel neben sich. „Oma hat mir von einem alten japanischen Sprichwort erzählt: Wer 1000 Kraniche faltet, hat einen Wunsch frei“, fährt sie fort und beginnt geschickt, ein Stück gelbes Papier zu falten.

„Jetzt fehlt nur noch der Kopf. Den machst du.“ Ihre kleinen Hände greifen meine Finger und führen sie über das Papier. Der Ballon hüpft über uns vergnügt auf und ab. Im nächsten Moment sitzt ein gelber Vogel zwischen uns auf dem Tisch.

„Jetzt hast du deinen ersten Tsuru gemacht!“, ruft sie freudig.

„Aber das Meiste hast doch du gemacht!“

Ernst blickt sie mich aus ihren großen Augen an: „Aber du hast mir dabei geholfen.“ Während ich zuschaue, wie ihre Hände ein Stück Papier nach dem anderen in einen kleinen, bunten Kranich verwandeln, versuche ich mir die Schritte einzuprägen.

Erst die Flügel, dann das Schwänzchen und am Ende der Kopf.

910.

„Und was ist denn dein Wunsch?“, frage ich sie.

Ohne von ihrer Arbeit aufzublicken, antwortet das Mädchen: „Einmal die ganze Welt sehen.“

Als ich einen Blick nach draußen werfe, erschrecke ich. Die Nacht bricht an. Hastig stehe ich auf, lege ein paar Yen auf den Tisch und drehe mich zur Tür.

„Warte, dein roter Stift! Oder willst du doch lieber den grünen?“

Verwirrt drehe ich mich um. Tatsächlich. Unter den unzähligen Faltvögeln auf dem Tisch lugt der rote Stift hervor. Als ich danach greife, stößt der Luftballon gegen die Deckenlampe. Überrascht blickt das Mädchen auf. „Was machst du mit dem Ballon?“ Da ist es wieder. Dieses entwaffnende Lächeln.

Langsam löse ich die Schnur und halte sie dem Mädchen hin. „Möchtest du ihn haben?“ Sie nickt. Für einen Augenblick berührt ihre kleine, warme Hand fragend die meine: „Sehen wir uns wieder?“

An der Türschwelle halte ich noch mal inne und drehe mich um. „Wie heißt du?“

„Mama hat mir verboten, euch meinen Namen zu sagen“, antwortet das Mädchen mit ernstem Blick. „Bald habe ich 1000 Tsuru gefaltet. Und weil du mir geholfen hast, hast du auch einen Wunsch frei. Willst du dann wissen, wie ich heiße?“

Ihr Lächeln begleitet mich nach draußen. Kurz halte ich inne und rechne.

Von hier sind es 40 Kilometer.

Sie ist weit genug entfernt.

Die Autorin Vanessa Palumbo

  • Aufgewachsen in Oftersheim, absolvierte die 21-Jährige nach ihrem Abitur am Hebel-Gymnasium Schwetzingen verschiedene journalistische Praktika und lebte als Au-Pair in Frankreich.
  • Nun studiert sie im gehobenen Auswärtigen Dienst des Auswärtigen Amts und arbeitet aktuell an der Deutschen Botschaft in Tokyo.
  • Besondere Erlebnisse, die sie auf ihren Reisen sammelt, verpackt sie in Geschichten. So ist auch ihre Kurzgeschichte „Faltvogelregen“ nach einer eindrucksvollen Reise an den Ort des ersten Atombombenabwurfs in Hiroshima entstanden.

Japan, 06.08.1945, 6.30 Uhr 40 km vom Epizentrum

Heute ist es so weit.

Ein letzter Blick auf die Karte. Um mich herum herrscht Aufbruchsstimmung. Der Kommandeur klopft mir fest auf die Schulter. Keiner merkt, dass der Ballon fehlt. Mit zittrigen Händen greife ich den roten Stift und fixiere den schwarzen Kreis in der Mitte der Karte. Plötzlich zwinkert mir der Kreis zu. Ein braunes Auge! Erschrocken kneife ich meine Augen zusammen. Atme tief ein. Öffne sie wieder. Ein schwarzer Kreis. Schnell ziehe ich das rote Kreuz hindurch.

Japan, 06.08.1945, 6.40 Uhr 40 km vom Epizentrum

999! Stolz betrachtet das kleine Mädchen den Papierkranichschwarm. Der Luftballon um ihr linkes Handgelenk hüpft freudig. Das muss sie dem netten Mann erzählen. Vielleicht will er den letzten Tsuru mit ihr zusammen falten? Dann hat er auch einen Wunsch frei.

Ihr Wunsch steht auf jeden Fall fest. Sie nimmt den grünen Stift und schreibt ihren Namen auf den Ballon: Heiwa. Sie weiß auch, was ihr Name auf seiner Sprache heißt. Das hat sie gelernt. Mit großen Linien schreibt sie ihn auf die andere Seite des Ballons.

Dann schlüpft sie nach draußen. Die Türklingel verhallt hinter ihr im Wind.

Japan, 06.08.1945, 7.45 Uhr 10 km vom Epizentrum

Ein letztes Mal checke ich die Kontrolllämpchen. Little Boy liegt sicher und ruhig. Alles verläuft nach Plan. Die Zugfahrt zum Versteck der Enola Gay ist ohne Vorkommnisse verlaufen. Brechend voll war der Zug. Alte, Junge, Große, Kleine. Keiner hatte mich eines Blickes gewürdigt, und so bemerkte auch niemand, wie ich zwei Stationen früher ausstieg, während sie in ihr Verderben fuhren. Ich versuche, den Kloß in meinem Hals herunterzuschlucken, und werfe einen letzten Blick auf das rote Kreuz auf der Karte. Dann drücke ich den Gashebel nach vorne. Die Turbinen heulen auf.

Japan, 06.08.1945, 7.53 Uhr 500 m vom Epizentrum

Verloren blickt sich das Mädchen um, wo der Zug sie ausgespuckt hat, nachdem sie den Mann aus den Augen verloren hatte. Sie wollte zu ihm gehen. Den 999. Tsuru zeigen. Doch dann drängten die Menschenmassen sie in ein anderes Abteil.

Jetzt steht sie hier und betrachtet das große Haus mit grünem Kuppeldach. Die aufgehende Sonne strahlt ihr ins Gesicht. Über sich hört sie die bedrohlich lauten Triebwerke eines Flugzeugs. Sie hebt ihre linke Hand, um ihre Augen abzuschirmen und blickt nach oben.

In diesem Moment löst sich der Luftballon um ihr Handgelenk und steigt in den Himmel.

„Erzähl mir was“

  • Mehr als 100 Geschichten erwachsener Leserinnen und Leser zum Thema „Krieg und Frieden“ haben uns erreicht, zwölf sind in der Endrunde. In den vergangenen Wochen sind die Geschichten und die dazugehörigen Podcasts dienstags, donnerstags und samstags erschienen. In den Podcasts werden die Geschichten von Kulturchef Stefan M. Dettlinger gelesen.
  • Unsere Leserinnen und Leser entscheiden jetzt, wer den dritten Schreibwettbewerb „Erzähl mir was“ gewinnt: In einer Onlineabstimmung werden nach dem 20. August die sechs Siegerinnen und Sieger ermittelt.
  • Hier geht es zur Abstimmung.

Japan, 06.08.1945, 8.14 Uhr über dem Epizentrum

Ruhig liegt Hiroshima unter mir. Und nur einen Knopfdruck weit entfernt liegt die Zerstörung. Aus weiter Ferne höre ich die Stimme des Kommandeurs in meinem Ohr: „Alles ist bereit, Soldat. Noch eine Minute bis zum Abwurf. Der Stolz des Vaterlands gebührt Ihnen. Over.“

Ich werfe einen letzten Blick auf die Karte auf meinem Schoß. Dann lege ich meine Hand auf den kleinen Knopf. Warm und weich schmiegt er sich an mich. Ich umklammere ihn fest.

„Sehen wir uns wieder?“

Ich zucke zusammen und schaue nach vorne durch die Scheibe.

Braune Augen blicken mir entgegen.

Plötzlich schwebt langsam und friedlich ein weißer Luftballon vor dem Flugzeug auf.

H E I W A.

Grün. Kindliche Schrift. Eine Windböe erfasst den Ballon und wirbelt ihn herum.

P E A C E.

Ich öffne das Fenster und greife nach der Karte auf meinem Schoss.

Flügel. Schwänzchen. Kopf.

Over.

Friedlich segelt der Kranich auf Hiroshima hinab.

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