Hockenheim. Es ist noch nicht lange her. Vor 87 Jahren, am 9. November 1938, wurde, so sagt es Oberbürgermeister Marcus Zeitler in der Gedenkstunde zur Reichspogromnacht, aus alltäglicher Ausgrenzung offene Barbarei, aus dem hasserfüllten Wort die gewaltsame Tat. In dieser Nacht siegten in Deutschland die Gleichgültigkeit und die Unmenschlichkeit. Synagogen brannten, jüdische Mitbürger wurden offen verfolgt, gequält und getötet. Es war der vollständige Verfall aller Moral. Ein Verfall, der die Unmenschlichkeit geradezu entfesselte und das Land massiv brutalisierte.
Zwei Jahre später, am 22. Oktober 1940, folgte mit der sogenannten Wagner-Bürckel-Aktion die Deportation aller Juden aus Baden ins französische Internierungslager Gurs. 5600 Juden aus 138 badischen Gemeinden wurden hierher deportiert und wenig später nach Auschwitz, wo fast alle ermordet wurden. An sie zu erinnern, so Zeitler, sei Pflicht. „Nicht, um uns schuldig zu fühlen, sondern um Verantwortung zu tragen.“ Für ihn das Fundament jeder lebendigen Demokratie.
Die Unmenschlichkeit beginnt wieder, ihr dunkles Haupt zu heben
Bevor Zeitler am Gedenkstein für Gurs seine eindringlichen Worte fand, hatte der ökumenische Gedenkgottesdienst im katholischen Gemeindezentrum St. Christophorus mit Alexander Leventhal am Klavier, der begrüßenden Daniela Gut und einem traumschönen „Halleluja“ des Carl-Friedrich-Gauß-Gymnasium-Ensembles seinen Anfang genommen. Mit der Rezitation des Psalm 74, „Gottes Tempel, ein Trümmerhaufen“, beschrieb Gabriele Amberg die Verzweiflung der Menschen und die Kraft der Hoffnung, die trotz allem nie weg war. Aber die Erschütterung angesichts dieser Verbrechen, so Pfarrer Steffen Götze, wirke nach wie vor. Auch, weil die Unmenschlichkeit gerade wieder beginne, ihr dunkles Haupt zu heben. Aber es gebe Grund für Zuversicht. Als Beleg gilt ihm Jesaja 43,1. Worte der Hoffnung, die trotz aller Gewalt überdauert haben.
Klaus Brandenburger vom Arbeitskreis Jüdische Geschichte Hockenheim lenkte den Blick auf dieses Duo dunkelster Stunden Deutschlands: die Reichspogromnacht, in der auch die Hockenheimer Synagoge bis auf die Grundmauern niederbrannte, und die zwei Jahre später erfolgenden Deportation aller Juden aus Baden nach Gurs. Eine Zeit wahrhaft ohne jede Menschlichkeit. Besonders deutlich wurde dies zum einen mit einem Zufallsfund und dem musikalischen Denkmal für die Kinder von Izieu des Liedermachers Reinhard Mey.
Erinnerung an Geigenschülerin Inge Baumgarten
Zufällig wurde ein Programm für ein Schülerkonzert gefunden, bei dem es der Musiklehrer Johannes Hocker seiner jüdischen Geigenschülerin Inge Baumgarten ermöglichte, am 28. Oktober 1934 an einem Konzert im Stadtpark mitzuspielen. Sie war damals 13 Jahre alt. Sechs Jahre später, am 22. Oktober 1940, wurde die 19-Jährige mit ihren Eltern nach Gurs deportiert und 1942 in Auschwitz mit 21 Jahren ermordet. Erschütternd wirkte sich hier der Auftritt von Matthias H. Werner aus, der das Lied „Die Kinder von Izieu“ sang.
Die Kombination aus den Bildern der 44 jüdischen Waisenkinder, die alle 1944 in Auschwitz ermordet wurden, und den Textzeilen entfaltete eine Kraft, die das „Nie wieder“ im Grunde zur Staatsräson machte. Immer wieder, wie konnte das geschehen. Und wissen, dass es dafür eigentlich keine Antwort geben kann. Außer, und das stellte Brandenburger diesem Dunkel gegenüber, das seit 2005 bestehende ökumenische Jugendprojekt Mahnmal in Hockenheim und Neckarzimmern.
Gebetszettel in Ritzen der von Konfirmanden aufgebauten Klagemauer gesteckt
Nach den bedrückenden Bildern und Textzeilen nahmen die fast 100 Besucher, die Möglichkeit einen Gebetszettel in die Ritzen der von Konfirmanden aufgebauten Klagemauer zu stecken, fast dankbar an. Auch sie machten mit ihren anschließenden Fürbitten klar, dass das Erinnern, wozu Menschen fähig sind, wichtig ist. Denn wie sagte es Holocaust-Überlebende Margot Friedländer: „Ihr habt es in der Hand, dass das nicht wieder passiert.“ Alles, was es dafür bedarf, sei das Menschsein.
Anschließend begaben sich die Menschen gemeinsam zum Gedenkstein für die nach Gurs deportierten Juden, wo auch der Oberbürgermeister die überragende Bedeutung des Erinnerns betonte. Erinnern heißt für ihn, Verantwortung übernehmen - und zwar für das, was war, und für das, was kommt. In einer Demokratie ein unerlässliches Duo. Die Pogromnacht, so Zeitler, sei kein Zufall gewesen. Sie war das Ergebnis jahrelanger Hetze und zunehmender Gleichgültigkeit. Und dieses Wissen sei Mahnung.
Erinnern als Verpflichtung für die Zukunft
Leider, und man merkte ihm an, dass ihm das zusetzte, sei dieses Mahnen und Lernen an und aus der Geschichte schwächer geworden. „Der Antisemitismus ist in Deutschland nicht überwunden.“ Worte, die den hier Stehenden sichtlich weh taten. Der Hass, das Demütigen, ja das Verneinen des Menschlichen im Anderen: alles immer noch da.
Und so sei das Gedenken wichtig wie nie. Das gemeinsame Erinnern sei nicht nur Rückblick, sondern Verpflichtung für die Zukunft. „Für eine Zukunft, in der Menschlichkeit unser hellstes Licht ist.“
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