Odenwald-Tauber/Berlin. „Wir haben keinen nennenswerten ÖPNV – vor allem im ländlichen Raum“, sagt er – und macht zugleich Vorschläge, wie sich die Situation entscheidend verbessern könnte – für „Jedermann“ und „Jederfrau“, also für die gesamte Gesellschaft.
Herr Professor Dr. Knie, wie ist es denn um den ÖPNV in Deutschland insgesamt bestellt?
Professor Dr. Andreas Knie: Sehr schlecht. Denn wir haben keinen nennenswerten ÖPNV – besonders nicht im ländlichen Raum. Es werden bisher vor allem Schüler und Auszubildende transportiert. Der „Jedermann“ oder die „Jederfrau“ kommen im ÖPNV des ländlichen oder kleinstädtischen Raums praktisch gar nicht vor.
Die Struktur des ÖPNV ist völlig aus der Zeit gefallen.“
Wo speziell sehen Sie den größten Handlungsbedarf?
Knie: Die Struktur des ÖPNV ist völlig aus der Zeit gefallen. Sie ist aus einer Zeit, in der man dachte, man setzt voll und ganz auf das Auto. Und all jene, die keinen Führerschein besitzen, kann man in Busse und Bahnen „stecken“ – und so ist der ÖPNV auch organisiert. Er ist als Zwangsmaßnahme organisiert. Da steckt kein Produktstolz dahinter, es gibt keinen unternehmerischen Anreiz. Wir haben es mit bürokratischen Megamonstern zu tun, die produziert wurden. Am Ende steht keine Leistung, die wirklich Menschen begeistert.
Der ÖPNV taugt nicht als Rückgrat für die Verkehrswende – so Ihre These 2020. Müssen Sie sich diesbezüglich mittlerweile korrigieren?
Knie: Nein, das wird immer stärker sichtbar. Wenn wir eine Verkehrswende mit weniger Autobestand und weniger Autos, die im Bestand auch fahren, erreichen wollen, was zwingend geboten wäre, müssen wir den ÖPNV komplett neu organisieren.
Wo sind die Hebel anzusetzen, um den Zuspruch bei den Fahrgästen zu steigern?
Knie: Kern des Problems ist, dass wir einen unternehmerischen Anreiz brauchen, mehr Fahrgäste transportieren zu wollen. Wir leben nun mal in einer Marktwirtschaft und der ökonomische Benefiz strukturiert uns. Beim ÖPNV muss ein Interesse eines Unternehmens dahingehend vorliegen, möglichst viele Fahrgäste transportieren zu wollen. Wenn dies gegeben wäre, ist der Rest auch noch zu schaffen.
Wird der ländliche Raum im Vergleich zu den Ballungszentren benachteiligt?
Knie: Mit jener Struktur, die wir haben, ist er benachteiligt, denn in den städtischen und großstädtischen Regionen ist der ÖPNV aufgrund seiner Bündelungsfähigkeit im Vorteil. Wenn ich in großen Städten viele Menschen von A nach B transportieren will, ist das so. Habe ich eine hohe Halte- und Zieldichte und eine große Gefäßgröße, kann ich viele Menschen damit hin- und hertransportieren. In den außerstädtischen Räumen, da gehört auch der ländliche Raum dazu, gibt es diese Bündelungsfunktion nicht mehr. Das heißt, der ÖPNV, wie wir ihn kennen mit Bussen und Bahnen, kann die moderne Gesellschaft nicht mehr befriedigen.
Einen Großteil der Fahrgäste in Bussen und Bahnen machen Schüler und Auszubildende aus. Was muss getan werden, um auch andere Personengruppen – Senioren, Familien, Gehandicapte – verstärkt für den ÖPNV zu gewinnen?
Knie: Der ÖPNV muss neben dem eben schon genannten unternehmerischen Anreiz vor allem attraktive Produkte anbieten. Das bedeutet, prinzipiell muss er mich von dort abholen, wo ich bin, nämlich in der Regel zu Hause, im Geschäft oder im Büro. Und er muss mich genau dort wieder hinfahren, wo ich auch hin will. Wir benötigen eine Haus-zu-Haus-Bedienung. Wenn wir das nicht schaffen, werden wir keine Kunden gewinnen.
Und wie könnte diese Haus-zu-Haus-Bedienung aussehen?
Knie: Busse sind aus der Zeit gefallen, sie sind eine Erfindung der 1930er Jahre. Es sollte mehr in Richtung Anruf-Sammeltaxen gehen, die einen von der Haustür abholen und dann – so ist die Grundidee – zu einem wirklich großen Verkehrsknotenpunkt, ein sogenannter Hub, fahren, von dem aus die Busse zum nächsten Hub unterwegs sind. Sie sind dann in 15-Minuten-Takten ganz schnell von A nach B unterwegs. Aber um dorthin zu kommen, braucht es die Zubringerdienste. Dies ist auch unter Hub-und-Stoke-Verkehr bekannt.
Demzufolge fordern Sie flexiblere Nahverkehre, die sich auch um die Bedürfnisse der Menschen kümmern?
Knie: Da, wo die Menschen stehen und sich orientieren, daran müssen wir den ÖPNV ausrichten. Es ist falsch zu hoffen, dass sich die Menschen auf die Liniensysteme der Busverkehre stürzen.
Die großen Busse in den kleinen Dörfern, in denen viele Familien oder Senioren leben, sind Ihrer Meinung nach out?
Knie: Wir haben keine gebündelten Verkehre mehr außerhalb der Ballungsräume. Deshalb sind auch die Großgefährte außerhalb der Ballungsräume nicht mehr zeitgemäß. Sie kommen nicht dahin, wo man ist, sie bringen einen auch nicht dorthin, wo man hin will. Es fahren hier auch kaum noch Leute mit. Also müssen wir da ansetzen.
Sind nicht die Verkehrsunternehmen sowie die Bahn gefordert, mit speziellen Angeboten mehr in die Offensive zu gehen, um die Vorteile des ÖPNV mehr deutlich zu machen und ihn so für die verschiedenen Personengruppen – Senioren, Familien, Gehandicapte – schmackhaft zu machen?
Knie: Im ÖPNV gibt es sogenannte bestellte Verkehre. Das heißt, die Aufgabenträger oder die Gebietskörperschaften, also die Kreise oder manchmal auch die Länder, bestellen diesen Verkehr. Sie definieren ihn, der Verkehrsunternehmer ist nur ein ausführendes Organ, er ist lediglich der „Kutscher“, während das, was er abzufahren hat, von der Politik bestimmt wird. Sie sitzt auch an der Stellschraube und finanziert das Ganze. Jetzt ist die Politik auch gefordert, das Gesamte auch neu zu organisieren.
Somit sollte auch deutlich mehr Geld fließen?
Knie: Wenn wir einen attraktiven ÖPNV haben wollen, sollte er auch hoch getaktet sein, das Angebot muss auch verfügbar sein. Und es muss – das haben wir beim 9-Euro-Ticket gemerkt – alles viel einfacher werden.
Wie stehen Sie der These gegenüber, herkömmliche Taxiunternehmen künftig in den ÖPNV zu integrieren?
Knie: Durchaus positiv, denn wir brauchen eine „letzte Meile“. Und bei diesen Anruf-Sammeltaxen können auch Taxis zum Einsatz kommen. Es gilt, Taxis und Mietwagen zusammenzuführen, damit flexible Tarifstrukturen geschaffen werden können. Und natürlich sind Taxis ein ganz elementarer Teil des künftigen ÖPNV und müssen dementsprechend auch so finanziert werden.
Was muss sich denn bei den Rahmenbedingungen – Infrastruktur oder Komfort in den Fahrzeugen – ändern, um rasch voranzukommen?
Knie: Dies sind Selbstverständlichkeiten, die man haben muss. Die Transportmittel müssen sicher, sauber und pünktlich sein. Das sind Notwendigkeiten, über die müssen wir gar nicht reden, die müssen einfach da sein.
Wie stehen Sie dem gegenüber, die Privilegien für das Auto zu nehmen, um sie dem ÖPNV zukommen zu lassen – Stichwort neue Anreize setzen?
Knie: Sie haben es schon in der Frage vorformuliert. So lange wir das Auto bevorteilen, es also wirklich privilegieren und gegenüber anderen Verkehrsmitteln herausstreichen, werden die Menschen natürlich das Auto nutzen. Da wir aber ein Problem mit Klimawandel und Infrastrukturfinanzierung sowie Staus haben, müssen wir uns etwas ausdenken. Und da ist die Idee, die jetzt in die Zeit passt, die Privilegien, die das Auto genießt, wieder zu nehmen. Sie sind gemacht worden, um das Auto zu bevorzugen, zu popularisieren – das ist alles gelungen.
Das 9-Euro-Ticket hat die Menschen verstärkt in Bahnen und Busse gelockt, danach ist das Interesse wieder abgeflaut. Wie sehen Sie das 49-Euro-Ticket?
Knie: Wer vor zwei Jahren gedacht hätte, das 49-Euro-Ticket kommt, der hätte gejubelt – ein einheitliches Ticket für die gesamte Republik, eine Flatrate, die wir uns schon lange gewünscht haben. Aber nach den Erfahrungen des 9-Euro-Tickets muss man sagen, 29 Euro wären besser gewesen, da hätte man viel mehr Menschen für den ÖPNV gewinnen können. Deshalb sind 49 Euro nur „halb gut“.
Wäre es denkbar, den ÖPNV hierzulande komplett gratis anzubieten, wie dies in Luxemburg der Fall ist?
Knie: Nein, denn Luxemburg ist in einer besonderen Situation. Luxemburg erstickt im Verkehr mit Autos und Luxemburg hatte ohnehin bereits sehr geringe ÖPNV-Kosten. Stadt und Land sind sehr reich, deswegen kann man sich dort so etwas erlauben. Das kann man nicht auf Deutschland übertragen. Die Menschen hierzulande müssen etwas bezahlen, um von A nach B zu kommen. Derzeit gilt vor allem, Anreize zu setzen, gute Angebote und Sonderangebote zu offerieren, damit die Menschen überhaupt in die modernen ÖPNV-Verkehre einsteigen.
Wo steht denn Deutschland beim ÖPNV im internationalen Vergleich?
Knie: Eher im grauen Mittelfeld. Da sind Länder wie Luxemburg, Niederlande, vor allen Dingen aber Schweiz und Österreich deutlich weiter.
Glauben Sie, dass sich in absehbarer Zeit hierzulande Wesentliches verändert?
Knie: Nach dem 9-Euro- Ticket ist allen Leuten klar geworden, dass wir eine Reform brauchen, dass wir eine Reform können – und jetzt ist es bei der Politik an der Zeit, diese Reform auch einzuklagen. Denn die ÖPNV-Branche selbst schafft es ganz offensichtlich nicht, sich selbst zu verändern.
URL dieses Artikels:
https://www.schwetzinger-zeitung.de/deutschland-welt_artikel,-seite-1-kunden-gewinnen-durch-eine-haus-zu-haus-bedienung-_arid,2020947.html
Schwetzinger Zeitung Plus-Artikel Kommentar Verkehrsverbände in der Pflicht: Maskenkontrollen müssen besser werden!