Geschichte - Mehr als 20 Jahre nach dem Ende der DDR ist die Rekonstruktion "vorvernichteter" Akten des Ministeriums für Staatssicherheit eine Mammutaufgabe

Papier-Schnipsel bergen dunkle Stasi-Geheimnisse

Von 
Karin Rieppel
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Aus diesem Durcheinander werden wieder Dokumente. In jedem Sack stecken durchschnittlich etwa 300 zerrissene Seiten Akten-Material.

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Ende 1989 hatten die MfS-Mitarbeiter es nicht mehr geschafft, die Tonnen von Akten, Briefe und Dossiers zu vernichten. Nun werden sie wieder zusammengesetzt.

Die Steine hat Ute Köhler in einem Geschenkartikel-Discounter entdeckt. Sie sind glatt und rund, wie Kieselsteine in einem Flussbett. Wahrscheinlich sind sie als Schmucksteine für den Garten gedacht, zum Einfassen von Blumenbeeten beispielsweise. Auf Ute Köhlers Schreibtisch tun die Steine jetzt - anstelle kleiner Sandsäcke, die eigentlich dafür vorgesehen sind - Dienst als Beschwerer für die Papierschnipsel zerrissener Stasi-Dokumente, die von ihr wieder zusammengeklebt werden. Diese Arbeit ist Teil der manuellen Rekonstruktion der sogenannten "vorvernichteten" Stasi-Akten. Mehr als 20 Jahre nach dem Ende der DDR noch immer eine Mammutaufgabe.

Das Büro von Ute Köhler liegt in einem Gebäudekomplex in der Ruschestraße in Berlin-Lichtenberg, besser bekannt unter der Adresse Normannenstraße. Hier war die Zentrale des MfS, des Ministeriums für Staatssicherheit. Ein Gelände von rund 20 Hektar mit 29 Gebäuden und elf Innenhöfen. Damals mit mehreren Tausend hauptamtlichen Mitarbeitern und ein streng gesicherter Komplex. Ute Köhler sitzt in Haus 7. Dort hatte früher die HA XX ihren Sitz, die Hauptabteilung, die unter anderem zuständig war für Regimegegner. Heute sind in Haus 7 und Haus 8 die Archivräume und Büros der Stasi-Unterlagen-Behörde untergebracht, in denen auch an der Rekonstruktion der Stasi-Akten gearbeitet wird.

Ende 1989 hatten die MfS-Mitarbeiter es nicht mehr geschafft, die Tonnen von Papier, all die Akten, Briefe, Dossiers, Befehle und so weiter zu vernichten. Sie hatten zwar das Meiste zerrissen und in Säcke gestopft, doch angesichts der Mengen kapitulierten irgendwann die Maschinen. Die Reißwölfe sowieso, aber auch die Anlagen zum Verkollern, mit denen man Papierstreifen zu Papiermehl vermahlen kann. So konnten insgesamt 16 000 Säcke mit Stasi-Papieren gerettet werden. Bis heute wurden Unterlagen aus rund 500 solcher Säcke rekonstruiert. Und fast jedes rekonstruierte Schriftstück trägt zu neuen Erkenntnissen bei, nicht immer zu spektakulären, aber auch heute noch zu überraschenden und bedeutenden.

Auf den Tisch von Ute Köhler kommen nur die Unterlagen, die nicht zu stark zerstört sind, deren einzelne Seiten vielleicht nur drei-, vier- oder fünfmal zerrissen wurden. Wie bei einem Puzzle wird dann probiert, was zueinander gehören könnte. Die entscheidende Voraussetzung für das Kleben ist, dass die zerrissenen Teile, die mit Klebestreifen aneinandergefügt werden, inhaltlich zusammenpassen. Mit jeder geklebten Seite ist ein Original-Dokument gerettet. Ute Köhler macht diese Arbeit jetzt seit eineinhalb Jahren. Zwischen vielerlei Routine-Schriftkram stößt sie doch immer wieder auf Schriftstücke, die sie bestürzen. Wenn in einem Dokument deutlich wird, wie die Stasi einen Menschen gequält hat. Oder es finden sich Briefe, die ihren Empfänger nie erreicht haben.

Gute Reste eher die Ausnahme

Solch große, "ordentliche" Überreste sind ein Glücksfall und eher die Ausnahme. In den meisten Säcken herrscht das scheinbar völlige Schnipsel-Chaos. Kein Wunder, diese "vorvernichteten" Unterlagen waren für das Verkollern bestimmt und wurden deshalb von den Mitarbeitern des MfS in möglichst kleine Schnipsel zerrissen, damit die Maschinen es leichter haben. Diese Säcke werden heutzutage von Experten gesichtet, bevor entschieden wird, wie schnell sie zur Rekonstruktion kommen.

Ruth Schirge, eine junge Historikerin, macht diese Arbeit. Sie befasst sich gerade mit einem Dokumenten-Sack der Hauptabteilung II, die Informationen über Bürger Westberlins und Westdeutschlands gesammelt hat. Sie begutachtet die Schnipsel formal nach ihrer Rekonstruktionsqualität und inhaltlich nach ihrer Brisanz. Wie ist das Schadensbild? Deutet alles auf Informationen über Opfer und Täter hin oder handelt es sich nur um Routine-Unterlagen? Beide Kriterien entscheiden darüber, ob der entsprechende Sack als A-Ware für die virtuelle Rekonstruktion vorbereitet oder zunächst zurückgestellt wird.

Für die Entwicklung der Software und den technischen Ablauf der virtuellen Rekonstruktion ist das Fraunhofer-Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik zuständig. Seit 2007 läuft das Pilotprojekt, und noch in diesem Jahr soll die Testphase beginnen. Bisher wurde der Inhalt von etwa 60 Säcken digitalisiert, und das Fraunhofer-Institut entwickelt eine Software, bei der die Rechner zum Beispiel das Material, die Risskanten oder die Farbpixel der Schnipsel interpretieren und sie so als Seite wieder zueinanderfinden lassen. Ein weltweit einmaliges Projekt und, wie Joachim Häußler, der Projektleiter bei der Stasi-Unterlagenbehörde sagt, die einmalige Chance, etwas zurückzuholen, was es eigentlich nicht mehr geben sollte.

Ob der aktuelle Sack von Ruth Schirge in die virtuelle Rekonstruktion gehen wird, ist noch nicht entschieden, sie hat gerade erst mit der Sichtung begonnen. Insgesamt ist es der Fünfzigste, an dem sie arbeitet, und sie hat inzwischen Erfahrungen, die ihr die Orientierung in den Schnipselbergen erleichtern. So nimmt sie immer nur kleine, flache Häufchen aus den der Länge nach aufgeschnittenen Säcken, um das Schnipsel-Chaos nicht zu vergrößern. Sie sucht vor allem nach Decknamen sogenannter "operativer Vorgänge", das waren Aktionen der Stasi gegen Personen, nach Informationen, die auch heute noch für die Aufklärung und Forschung von besonderem Interesse sind.

Erschwerte Rekonstruktion

Eine Erfahrung macht sie dabei immer wieder. Plötzlich, nach circa der Hälfte der Schnipsel aus einem Sack, ändert sich der Inhalt komplett. Eine mögliche Erklärung dafür wäre: Ein Stasi-Mann hat seine Akten-Vernichtung gestoppt und aus Gründen, die keiner weiß und die vielleicht auch gar nicht wichtig waren, den Sack an einen Kollegen weitergegeben. Der hat dann mit seinen zerrissenen Dokumenten den Sack vollgemacht. So muss es nicht, so könnte es gewesen sein. Das erschwert zwar die Rekonstruktion, aber es verhindert sie nicht.

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