Hunderttausende sind in den letzten Wochen auf die Straße gegangen, um gegen Rechtsextremismus zu demonstrieren. Höchstwahrscheinlich war keiner der Beteiligten alt genug, um das Ende der Weimarer Republik miterlebt zu haben, aber es gibt Zeugnisse jener Jahre, die beklemmend aktuell wirken. Einer dieser Zeugen ist Erich Kästner. Die meisten Menschen kennen den Schriftsteller als Autor einer Vielzahl bekannter Kinderbücher, allen voran „Emil und die Detektive“ (1929), „Das fliegende Klassenzimmer“ (1933) oder „Das doppelte Lottchen“ (1949).
Wie zeitlos gut diese Geschichten sind, belegen nicht zuletzt die regelmäßigen Verfilmungen; gerade die Erzählung der beiden als Babys getrennten Zwillinge wird immer wieder neu inszeniert. Natürlich sind die Romane in mancherlei Hinsicht Kinder ihrer Zeit, aber das gilt nur für die äußeren Umstände. Stilistisch bereiten sie heute noch genauso viel Freude wie vor Jahrzehnten, und das gilt keineswegs nur für die eigentliche Zielgruppe.
Gleich zwei Anlässe um Erich Kästner zu gedenken
Es gibt in diesem Jahr gleich zwei Anlässe, Kästner zu gedenken: Er ist vor 125 Jahren (am 23. Februar 1899) in Dresden zur Welt gekommen und vor fünfzig Jahren (am 29. Juli 1974) in München gestorben.
Der wichtigere Grund, sich mit Kästner und seinem Werk zu beschäftigen, hat jedoch politische Hintergründe. Viele Menschen wissen vermutlich gar nicht, dass er auch Bücher für Erwachsene geschrieben hat, allen voran „Fabian. Die Geschichte eines Moralisten“ (1931), erst vor wenigen Jahren noch von Dominik Graf verfilmt („Fabian oder Der Gang vor die Hunde“, 2021). Weniger bekannt ist der Lyriker Kästner. Auch deshalb ist das kürzlich erschienene erste Handbuch zu Leben, Werk und Wirkung des Schriftstellers eine überaus erkenntnisstiftende Lektüre, die jeden Cent ihres allerdings in der Tat stolzen Preises wert ist.
Darüber hinaus stellt das Buch eine Art Wiedergutmachung dar, denn Kästner ist nicht nur als Dichter, sondern auch als politischer Autor in Vergessenheit geraten. Ursächlich verantwortlich dafür ist die 68er-Bewegung, die getreu der Devise des linken Liedermachers Franz Josef Degenhardt, „Zwischentöne sind nur Krampf im Klassenkampf“, nicht viel mit seinen subtilen Texten anfangen konnte.
Neues Kästner-Handbuch
- Das von Stefan Neuhaus herausgegebene Kästner-Handbuch (J.B. Metzler Verlag, 582 Seiten, 99,99 Euro) enthält eine umfassende Darstellung des journalistischen, lyrischen, erzählerischen und kinderliterarischen Werks Kästners sowie ausführliche Bibliographien.
- Den Abschluss bildet ein Interview mit Walter Sittler, der regelmäßig mit Kästner-Texten auf Tournee geht. Der Schauspieler würdigt darin Kästners unaufgeregte Ablehnung von Krieg, Gewalt und preußischer Hierarchie: Er ergreife die Menschen, „bringt sie zum Lachen, befördert mit seiner so reichen und dennoch leicht verständlichen Sprache die Phantasie“; und er mache Mut.
Kästner teilte vor gut achtzig Jahren nach der sogenannten Machtergreifung der Nationalsozialisten die Ansicht vieler anderer, das Regime werde „ein kurzer Spuk bleiben und vielleicht ein paar Monate dauern, höchstens aber ein Jahr“; ein frommer Wunsch, wie sich bald darauf zeigte. Auch deshalb wurde er nach dem Zweiten Weltkrieg nicht müde, die Deutschen regelmäßig zu ermahnen, es nie wieder so weit kommen zu lassen.
Dass der Schriftsteller unter den Vordenkern der 68er-Gegenkultur dennoch kaum Fürsprache fand, lag nicht zuletzt an seiner Heimattreue: Während die meisten prominenten Kollegen, allen voran Thomas Mann, ins Exil gingen, blieb er als Chronist der Ereignisse in Berlin, zumal er auch seine Mutter nicht allein zurücklassen wollte. Prompt stand er später im Verdacht, ein Mitläufer gewesen zu sein.
Kästner wurde als "Verfemter" zwei Mal verhaftet und verhört
Davon konnte bei Kästner, der im Mai 1933 Zeuge wurde, wie seine Bücher verbrannt wurden, allerdings keine Rede sein, zumal er als sogenannter „Verfemter“ zweimal von der Gestapo verhaftet und verhört wurde. 1958 hat er seine Haltung in jenen Jahren so beschrieben: „Ich hatte angesichts des Scheiterhaufens nicht aufgeschrien. Ich hatte nicht mit der Faust gedroht. Ich hatte sie nur in der Tasche geballt.“ In Gedichten wie „Kennst Du das Land, wo die Kanonen blühn?“ (1927) hatte er schon früh keinen Zweifel daran gelassen, was er vom Militarismus hielt.
Allerdings hat Kästner seine Tätigkeit trotz eines Berufsverbots auch weiterhin ausüben können, und das keineswegs nur unterm Radar. Angeblich auf ausdrücklichen Wunsch von Propagandaminister Joseph Goebbels, aber zumindest mit dessen Billigung war er 1942 unter seinem Pseudonym Berthold Bürger maßgeblich an der Vorlage zu dem spektakulären Ufa-Film „Münchhausen“ mit Hans Albers beteiligt. Auf Kästner, heißt es im Handbuch, sei man gekommen, „weil zu der Zeit kaum noch gute Schriftsteller in Nazi-Deutschland lebten, die qualitativ hochwertige Drehbücher schreiben konnten.“
Seine hervorragenden Kontakte zu den zahlreichen „Inneren Emigranten“ in der Filmindustrie hätten dabei ebenfalls eine große Rolle gespielt: „So war Kästner mit demokratisch gesonnenen Stars wie Heinz Rühmann gut befreundet, der sich ebenfalls nach außen möglichst unpolitisch verhielt, um die eigene Karriere nicht zu gefährden - und der vom Regime, trotz fehlender politischer Gesinnung, wegen seiner riesigen Popularität wertgeschätzt wurde.“
Als Autor sorgte Kästner dafür, dass das Drehbuch zu „Münchhausen“ viele Anspielungen und versteckte Kritik enthielt; die Menschen wussten Bemerkungen wie „Die Zeit ist kaputt“ sehr wohl zu deuten. Nach 1945 nutzte er seine Popularität und sein Talent, um vor allem als Journalist das „aus seiner Sicht Menschenmögliche für den Aufbau einer demokratischen Gesellschaft zu tun.“
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