Aufklärung ist ein Romanstoff. Für Angela Steidele gewiss. Sie hat dieser Epoche, die im 18. Jahrhundert alle Menschen mündig machen wollte, ein 600 Seiten dickes Buch gewidmet. Zeiten waren das: Man handelte vernunftgesteuert. Argumentativ. Das ist im 21. Jahrhundert eher wieder unüblich geworden. Und tatsächlich wittert Steidele bei ihrem Lesen.Hören-Auftritt in der Alten Feuerwache einen „Neoirrationalismus“, festzumachen unter anderem an „Querdenkern“, Corona-Leugnern und einem blondierten Präsidenten namens Donald Trump. Angela Steidele beklagt in Mannheim, dass „der Unsinn heute wieder so zentral“ in unser Leben einbreche. Zeit für die Aufklärung 2.0.
Rhetorische Potenz
Ihre 1.0-Version beschreibt uns die Autorin an einem zentralen Schauplatz: Leipzig. Wo man damals Toleranz verordnet hatte, von ganz oben, weil es den Regierenden politisch opportun erschien. Und weil es in der alten Messestadt auch den Geschäften dienlich war und Kaufleute aus fernen Ländern anzog (die hier ihre Gottesdienste feiern durften). „Toleranz als Standortfaktor“, nennt das Angela Steidele in Mannheim. Leipzig sei ein guter Ort gewesen, um den Aberglauben, diese „Schwindsucht des Verstandes“, hinter sich zu lassen.
Die Zitate zeigen schon: Angela Steidele besitzt rhetorische Potenz. Sie kann zudem sympathisch selbstironisch sein. Auch mündlich hört man von ihr eine ganze Menge Druckreifes, es macht schon Sinn, dass ihre Lesung auch von einem Radiosender mitgeschnitten wird. Und Insa Wilke, die den Abend moderiert, gibt ihr verbale Steilvorlagen und entlockt ihr ihre künstlerischen „Taschenspielertricks“.
Angela Steideles Verfahren ist, nicht nur in diesem Fall, ein Mix von Faktischem und Fiktionalem, Sachbuch und Roman, Vergangenheit und Gegenwart. Moderne Flapsigkeiten mogeln sich ins 18. Jahrhundert, doch die Absicht ist seriös und ernst: „Geschichte wird von heute aus erzählt“, sagt Steidele, „und Quellen werden immer wieder neu befragt“. Wie häufig bei dieser Autorin, rückt sie Frauen in den Mittelpunkt ihrer Erzählung, diesmal heißt die Heldin Dorothea Bach, älteste Tochter des berühmten Thomas-Kantors und bekannt mit einigen gelehrten Frauen der Epoche, wie Luise Gottsched oder Caroline Neuber – letztere erneuerte damals das Sprechtheater. Manche der Begegnungen sind frei erfunden. Und dass über Dorothea Bach Vater Johann Sebastian in den Kreis der Aufklärer befördert wird, zumindest indirekt, ist nicht ganz unumstritten. Nicht bloß, weil er primär Kirchenmusiker gewesen ist.
Verbürgt ist allerdings, dass damals schon gegendert wurde, jedenfalls in ersten Ansätzen. Selbst Leipzigs „Chefaufklärer“ Johann Christoph Gottsched, Schriftsteller und Spracherzieher, sprach schon von „Studierenden“. Das war im Jahre 1725. Durchgesetzt hat es sich damals nicht. Angela Steidele erkennt stattdessen einige Jahrzehnte später eine „neue Frauenfeindlichkeit“ und ordnet ihr illustre Namen zu: Rousseau und Lessing.
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