An der unverwechselbaren angerauten Stimme lässt sie sich sofort erkennen: Anne Ratte-Polle ist am Telefon. Sie sei noch leicht erschöpft, erklärt sie uns. Nach Dreharbeiten für „Mein Falke“, einen neuen Film des Regisseurs Dominik Graf. In Wolfsburg und Umgebung stand sie dafür vor der Kamera. In Ludwigshafen wird sie nun beim Festival des deutschen Films auf einem Podium stehen und den Preis für Schauspielkunst entgegennehmen – am 4. September.
Frau Ratte-Polle, man kann gleich mit einem Kompliment beginnen: „Alle wollen geliebt werden“, der Film, der auch in Ludwigshafen laufen wird, macht Eindruck. Manchmal hat er fast verstörende Facetten. Dabei wird er als Komödie angekündigt …
Anne Ratte-Polle: Er ist tragikomisch. Man kann lachen, aber dieses Lachen bleibt einem bisweilen auch im Hals stecken.
Sie haben in dem Film wieder sehr rote Haare. Sind Sie wieder eine Frau im Kampf-Modus?
Ratte-Polle: Wieso „wieder rote Haare“?
Weil man sich da gleich an diesen etwas grellen „Tatort“-Auftritt in der Folge „Alles kommt zurück“ erinnert.
Ratte-Polle (lachend): Richtig, beide Frauen kämpfen, aber jeweils völlig anders. In „Alle wollen geliebt werden“ kämpft die Hauptfigur stark mit sich selber, um es allen recht machen zu können. Während die Figur im „Tatort“ mit kompletter Hingabe nur für sich selber kämpft. Die Figur war eigentlich eine Männerrolle, doch Detlev Buck, der Regisseur, fragte mich. Wir behielten die männliche Sprache bei, aber ansonsten wollte ich sie sehr weiblich wirken lassen, deswegen auch die knallroten Haare. Mit roten Haaren assoziiere ich auch Stigmatisierung, Feuer oder Hexen. Beide Figuren haben auf ihre Weise etwas von einer brennenden Fackel. In der letzten Zeit habe ich viel mit Haarfarben experimentiert – rot, schwarz, blond. Sie verändern den Typ, das hilft beim Spielen. „Alle wollen geliebt werden“ handelt auch von den Rollen-Mustern, die noch immer in uns stecken.
Dann kommt allerdings der Punkt, an dem der Hauptfigur die Lust abhandenkommt, immer zu funktionieren: bei einem Geburtstagsfest, auf dem sie einen Schmuse-Song zum Besten geben soll. Aber es bricht aus ihr heraus …
Ratte-Polle: Sie lässt alles los und ist danach zum ersten Mal entspannt.
Kam das eher von Ihnen oder von der jungen Regisseurin Katharina Woll?
Ratte-Polle: Das stand so im Drehbuch. Aber wie genau ich ausraste, das kam mir dann beim Spielen: Wie man richtig reingeht in die Peinlichkeit.
Dringt da auch die Theaterschauspielerin in Ihnen durch?
Ratte-Polle (lachend): Man benutzt natürlich alles. Das Theater ist mir nach wie vor sehr wichtig. Seit Corona bin ich allerdings sehr dankbar, dass ich in den letzten Jahren nur gedreht habe. Doch das Theater hat mich tief geprägt, ich habe dabei immer sehr darauf geachtet, wo ich spiele und mit wem. Was da an der Berliner Volksbühne unter Frank Castorf lief, hat mich beim Zuschauen und Mitspielen schier umgehauen. Es war meine Droge.
Wie stark sind Sie von der Volksbühne geprägt? Sie „Castorf-Schauspielerin“ zu nennen, würde wohl zu kurz greifen?
Ratte-Polle: Ja, bei Castorf spielte ich nur in zwei Stücken. Doch ich mag eben das Ausprobieren, Experimentieren, ohne das kann man die Volksbühne gar nicht bespielen. Unter der Regie von Herbert Fritsch bin ich in „Murmel Murmel“ aufgetreten, und wir sagen in dem ganzen Stück nichts anderes als „murmel murmel“, und das muss man dann eben auch denken. Was auch immer das bedeuten mag.
Verschafft das Volksbühnen-Theater neuen Spielraum?
Ratte-Polle: Ja, das hat es ganz bestimmt getan. Castorf, Herbert Fritsch, René Pollesch, Dimiter Gotscheff, mit denen ich damals arbeiten durfte, hatten und haben ihren sehr eigenen Stil und ihre individuelle Arbeitsweise. Es geht letztlich um eine starke künstlerische, auch politische, Haltung. Man muss zu diesem Zweck immer aufs Neue finden und auch aussortieren.
Harter Schnitt: Wenn man sich Ihren Lebenslauf betrachtet, gibt es eine große Zahl von Gastauftritten in diversen Fernsehkrimis. Dienen die dem reinen Broterwerb?
Ratte-Polle: Krimis sind nun einmal eine „klassische“ Unterhaltungsform, und hier in Deutschland werden eben sehr viele gedreht. Aber auch da wähle ich aus: Wer ist der Regisseur? Was kann ich in eine Figur hineinbringen? Den schon erwähnten „Tatort“ etwa habe ich nur wegen Detlev Buck gemacht. Ich spiele darin eine Kommissarin, die in allem ausgesprochen krass ist, sogar Frauen gegenüber. Und das Fernsehen hat eine große Macht im Hinblick auf das Frauen-Bild, das hier gezeigt wird. Es kann neue Normen setzen. Frauen müssen heute nicht mehr nur hübsch, lieb, nett und einfühlsam sein. Diese „Tatort“-Kommissarin lebt das aus. Sehr genussvoll.
Das war „nur“ ein Gastauftritt. Was aber würden Sie zu einem festen Job als Fernsehkommissarin sagen?
Ratte-Polle: Meine Liebe galt schon immer dem Film und dem Theater. Toll finde ich auch mehrteilige Serienformate. Das sind aber eben alles Geschichten mit einem Ende. Als Fernsehkommissarin hätte ich Angst, dass das irgendwann in Beliebigkeit ausufert. Außerdem ist man stark auf eine Rolle festgelegt. Doch ja, eine Figur wie Miss Marple würde mich sehr reizen – wenn ich einmal 70 bin.
Sie haben auch in der in Deutschland produzierten Netflix-Serie „Dark“ in einer Hauptrolle gespielt, in zwei der insgesamt drei Staffeln. Wieviel Lebenszeit hat das gekostet?
Ratte-Polle: Eher wenig, das sieht nur von außen anders aus. In Wahrheit hatte ich gar nicht so viele Drehtage. Doch es war großartig: wegen der Filmemacher und auch wegen des Ensembles. Gerne hätte ich mehr Lebenszeit damit verbracht, es machte Spaß, in dieser Blase, dieser eigenen Welt mit drinzustecken. Aber ja, es ist vorbei. Zeit, etwas Neues zu erzählen.
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