Ludwigshafen. Eine ungewöhnliche Lesung im gläsernen Foyer des Pfalzbaus: Die im Exil lebende Schriftstellerin und Menschenrechtsaktivistin Asli Erdogan liest aus „Requiem für eine verlorene Stadt“ auf Türkisch. Theaterdramaturgin Roswitha Schwarz liest Episoden aus dem Erfolgsbuch auf Deutsch. Und der Lyriker Hassan Özdemir, mehr als vier Jahrzehnte in der Pfalz zuhause, moderiert in Türkisch und Deutsch. Allerdings weicht die Autorin mit dem Herzen in Istanbul und Wohnsitz in Berlin immer wieder ins Englische aus - was Hausherrin Schwarz deutsch zusammenfasst.
Das gleicht eher einer Performance und signalisiert, dass Literatur und Leben miteinander verwoben sind. Die studierte Physikerin, die einst am europäischen Kernforschungszentrum Cern tätig war, hat längst aufgegeben, nach kleinsten Bauteilchen der Materie zu fahnden - sie sucht stattdessen nach Elementarteilchen des Menschseins. Und dabei kreiert sie jenseits sich linear entwickelnder Handlungen ein eigenes Universum. Deshalb ist es konsequent, dass sich ihr vor 18 Jahren in der Türkei veröffentlichtes, 2021 französisch komplett überarbeitetes und für die deutsche Version nochmals leicht abgewandeltes „Requiem für eine verlorene Stadt“ als vielstimmige Collage präsentiert. Moderator Özdemir empfindet die Prosa seiner Schriftstellerkollegin als Poesie, die der Lyrik näher als dem Roman ist. Und Asli Erdogan betont, wie wichtig, ja existenziell für sie Gedichte sind. So habe ihr die „Todesfuge“ von Paul Celan, eine Hommage an Holocaust-Opfer, in der Gefängniszelle geholfen, seelisch zu überleben. Und nach der Inhaftierung Ende 2016 sei sie zehn Tage lang in Bachs Matthäus-Passion eingetaucht - um danach wieder zu schreiben.
In den Texten blitzen Melancholie und Schmerz auf. Nicht von ungefähr. Die zerbrechlich wirkende Mittfünzigerin, die schon während der Haft schwer krank war, erzählt, dass sie eine tragische Liebesbeziehung zunächst aus dem Leben katapultiert, ihr aber gleichwohl viel Kraft verliehen hat. Das ist auch im „Märchen für Galata“ zu spüren. Die assoziationsreiche Schilderung endet: „Wo Du auf alle Stimmen lauschst, um auch deine eigene zu vernehmen, und alle Schreie der Welt auf dich nimmst, um noch einmal geboren zu werden …“ Danach gefragt, ob ihre Heimatstadt nach wie vor Sehnsuchtsort ist, erklärt Erdogan, jenes Istanbul zu vermissen, das sie nach Deutschland mitgebracht hat - aber dieses werde sie wohl nie mehr wieder finden.
Auch wenn sich die preisgekrönte Autorin nicht als klassische Feministin versteht, so nimmt sie häufig ganz bewusst den weiblichen Blick ein. Im Requiem-Text „Alle Frauen der Stadt“ offenbart sie zudem ihr literarisches Ich: „Als würde ich Tabak rollen, forme ich mein Ich zu einer Geschichte, vermische mein Leben mit dem Tabak, mit Wein und mit dem Blau und dem Schwarz der Nacht und blase den Rauch in die Leere.“
Ihre Worte wispern, murmeln, klagen, liebkosen. Deshalb mache es einen Riesenunterschied, ob ein Buch in der Originalfassung oder übersetzt gelesen werde. Und was hält sie von der deutschen Version, übertragen von Gerhard Meier? Damit sei sie sehr zufrieden - mehr als mit der in Frankreich erschienenen Ausgabe. Dass Sprache nur der Versuch einer Annäherung sein kann, formuliert sie im „Lebenslauf für eine Gefängnismauer“ so: „Wer bist Du? Ich bin das Echo, das in dir spricht. Ich bin das, was mit Worten nicht über Dich erzählt werden kann, bin die Stille, die keine Antworten gibt“. Dafür gibt der Text eine Antwort darauf, warum der Buchtitel ursprünglich „die Stille des Lebens“ hieß .
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