Erster Eindruck vom Hockenheimring

Bruce Springsteen auf dem Hockenheimring: Der „Boss“ rockt später, aber gewaltig

Der Boss und die E Street Band liefen am Hockenheimring zur Höchstform auf. Bitter: Die letzten der rund 80.000 Fans kamen staubedingt erst kurz vor der Zugabe an. Sie verpassten weite Teile eines grandiosen und ziemlich speziellen Konzerts von Bruce Springsteen.

Von 
Jörg-Peter Klotz
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Der „Boss“ zeigt wohin es stimmungsmäßig geht: nach oben. © Dorothea Lenhardt

Hockenheim. „Oh Thunder Road“ singt Bruce Springsteen in einem seiner größten Songs beschwörend. Straßen sind in seinem Werk zentral, als Ausweg aus Enge, Unterdrückung und Kleingeistigkeit Richtung Freiheit. Aber wer dachte, man könne zum Open Air der US-Rockikone auf dem Hockenheimring einfach über die Autobahn oder die Landstraßen donnern, bekommt eine bittere Lektion. Obwohl das Konzert aufgrund der massiven Staus erst um 19.30 Uhr beginnt, also eine halbe Stunde später als angekündigt.

Vor dem Konzert: Alles füllt sich - allerdings nicht schnell genug. © Zinke

Der Stau stiehlt Hunderten mehr als die Hälfte der Show

Es ist fast 21.45 Uhr als der stete Strom der im (allerdings vielfach vorhergesagten) Verkehrsinfarkt rund um die Rennstrecke ausgebremsten  Nachzüglerinnen und Nachzügler endgültig abebbt. Da haben der „Boss“ und seine auf dieser Tour fast 20-köpfige E Street Band schon 100 Minuten musikalisches Feuerwerk abgebrannt. „Thunder Road“ muss als letztes Stück vor der furiosen Zugabe fast wie Hohn in den Ohren der „Stauopfer“ klingen.  Denn so mitreißend die sechs Songs auch sind, der Abend bleibt ihnen wohl eher als bittere Erfahrung in Erinnerung: Denn nach dem in der Regel langen Rückmarsch zum Fahrzeug wartet auch wieder nur ein Gegensatz zur Freiheit: der nächste Stau.

Aber das Gros der rund 80.000 Fans erlebt einen fantastischen Konzertabend. Die Besucherzahl stammt aus dem behördlichen Umfeld des größten Konzerts des Jahres in der Metropolregion. Veranstalter Live Nation hat  Nachfragen zur Publikumsresonanz unbeantwortet gelassen. Um Punkt 19.30 Uhr betreten die Bandmitglieder die Bühne. Zwei Minuten später nimmt der Boss die Ovationen kurz und souverän lächelnd ab. 

Hockenheimring

Bruce Springsteen begeistert seine Fans

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Das Konzert beginnt mit „No Surrender“

Bei den ersten Takten von „No Surrender“ im strahlenden Sonnenschein sind die Mühen der  Anfahrt vergessen – zumal das Gros der Fans frühzeitig losgefahren ist und/oder Bus, Bahn sowie Fahrrad genutzt hat um die staugeplagte Rennstrecke rechtzeitig zu erreichen. Der demonstrative Durchhaltewillen dieses Rock-Klassikers aus dem Jahr 1984 ist programmatisch für Springsteens  Programm auf dieser opulenten Welttournee, die in Hockenheim ihre drittletzte Station in Europa hat  - und die Haltung, die er vermitteln will. Beim zweiten Song „Ghosts“ vom vorletzten Album „Letter To You“ (2020) macht er sogar aus der Trauer um verstorbene Bandmitglieder wie Clarence Clemons oder  Danny Federici jede Menge positive Energie. Darin blickt er so hoffnungsvoll nach vorn, wie die Nummer von Max Weinbergs druckvollem Schlagzeug hinter dem gewohnt kompakten E-Street-Sound nach vorn getrieben wird. 

Springsteen glänzt mir exzellenten Gitarren Soli 

Auch „Prove It All Night” spricht in seinem auch nach 45 Jahren zeitlosen New-Jersey-Sound für sich - weil mehr als zweieinhalb Stunden Spielzeit zu erwarten sind. Aber vor allem, weil der Bandmotor jetzt alle Zylinder voll ausfährt. Inklusive starker Soli von Springsteen auf der Gitarre und Jake Clemons, der seinen 2011 verstorbenen Onkel am Saxofon der E Street Band absolut würdig beerbt . Die gemeinschaftsstiftende Botschaft von “Letter  To You” ist dem politisch aktiven Künstler so wichtig, dass der Text auf den drei Großleinwänden eingeblendet wird.

Gemeinsam geht es dann in “The Promised Land”, der Sound ist jetzt großartig transparent, die Sonne scheint - und der Zustrom der weniger glücklichen Fans von “Out In The Street” ebbt langsam ab. Beim wuchtig rockenden  „Darlington County“ nimmt der gewohnt kraftvoll, aber zu Beginn etwas angekratzt klingende Springsteen Tuchfühlung auf - und strahlt mit der Sonne um die Wette. Beim rasanten „Working On A Highway“ geht es noch mehr ab.

Spezielle Setlist ohne "Born In The USA"

Diese beiden Abräumer beantworten eine durchaus nicht unberechtigte Frage nachdrücklich: Können der Boss und sein Band-Kraftwerk Hockenheimring? Eine Location, in der aufgrund ihrer schieren Dimension  nur  Dampfhammer-Bands wie AC/DC bis auf die allerhintersten Plätze Euphorie auslösen. Die Antwort ist ein klares Ja. Wobei Springsteen kein lineares Geradeaus-Rennen fährt, sondern mehrfach die Fahrtrichtung ändert und lustvoll launige Ausflüge ins Kiesbett anbietet. Denn obwohl er auch sechs Stunden mit Hits und weltweiten Gassenhauern füllen könnte, ist die Setlist ziemlich speziell. Ewige Fanfavoriten wie „Cover Me“, „I’m On Fire“, „Hungry Heart“ und vor allem „Born In The USA“ fehlen gänzlich.

Bruce Springsteen: Setlist & Besetzung

Hauptteil:

  1. No Surrender (1984)
  2. Ghosts (2020)
  3. Prove It All Night (1978)
  4. Letter To You (2020)
  5. The Promised Land (1978)
  6. Out In The Street (1980)
  7. Darlington County (1984)
  8. Working On The Highway (1984)
  9. Kitty's Back (1973)
  10. Nightshift (2023, Original: The  Commodores)
  11. Mary's Place (2002)
  12. The River (1980)
  13. Last Man Standing (2020)
  14. Backstreets (1975)
  15. Because The Night (1986, erste Veröffentlichung: Patti Smith Group)
  16. She's The One (1975)
  17. Wrecking Ball (2009/Studioversion 2012)
  18. The Rising (2002)
  19. Badlands (1978)
  20. Thunder Road (1975)
     Zugabe
  21. Born To Run (1975)
  22. Bobby Jean (1984)
  23. Glory Days (1984)
  24. Dancing In The Dark (1984)
  25. Tenth Avenue Freeze-Out (1975)
  26. I'll See You in My Dreams (2020)

Die Besetzung der Welttournee 2023

Bruce Springsteen –Gesang, Gitarren, Harmonika
Roy Bittan – Piano, Synthesizer, Akkordion
Nils Lofgren – Gitarren, Background-Gesang
Patti Scialfa – Background-Gesang, Akustikgitarre
Garry Tallent – Bass, Background-Gesang
Steven Van Zandt – Gitarren, Background-Gesang
Max Weinberg – Schlagzeug
Jake Clemons – Saxofon, Background-Gesang
Soozie Tyrell – Geige, Akustikgitarre, Percussion, Background-Gesang
Charles Giordano – Orgel, Akkordeon, Glockenspiel
Lisa Lowell – Background-Gesang
Michelle Moore – Background-Gesang
Ada Dyer – Background-Gesang
Curtis King Jr. – Background-Gesang
Ed Manion – Tenor und Bariton-Saxofon, Percussion
Ozzie Melendez – Posaune
Curt Ramm – Trompete
Barry Danielian – Trompete
Anthony Almonte – Percussion, Background-Gesang

 

Dafür holt Springsteen einige Preziosen aus dem Archiv: „Kittys Back“ aus dem Jahr 1973 zum Beispiel. Das hat er in den vergangenen 50 Jahren insgesamt nicht so oft gespielt wie auf dieser Welttournee. Aber man sieht schnell, warum die Nummer reaktiviert wurde: aus Liebe. Denn die E-Streetler klingen hier plötzlich wie eine gigantische Version von Van Morrisons Live-Band: Jazzig verspielt, soulig, aber druckvoll verbreiten sie Club-Atmosphäre auf einer der größten Spielstätten der Republik.

Der Boss stiehlt seinen Gittaristen die Show

Ein Kunststück, das die Dampfhammer-Bands nicht im Programm haben. Die 19 Musiker und Musikerinnen agieren hier auf so extrem hohen Niveau, mit feinsinniger Interaktion untereinander und voller Spielfreude – das beeindruckt auch die meisten der Fans, die eher zum Mitschmettern altgedienter Hymnen-Refrains gekommen sind.  Springsteen zeigt dabei eines seiner zahlreichen Gitarrensoli auf deutlich höherem solistischen Niveau, als man es von ihm kennt. Das ist spannend. Aber auch sicher kein pures Vergnügen für Steven Van Zandt und Nils Lofgren. Die ausgedehnte Spielfreude ihres Chefs  dürfte bei den beiden Stargitarristen der E Street Band Sinnfragen aufkommen lassen, denn beide bekommen nur jeweils einmal das volle Rampenlicht.

Erstaunliche Feinheiten und Intimität im Klang

„Kitty’s Back“ ist jedenfalls die ideale Hinleitung zum Commodores-Hit  „Nightshift“, der als einzige Nummer von Springsteens Soul-Coveralbum „Only The Strong Survive“ zu hören ist – und musikalisch ein ganz großes Ausrufezeichen setzt. Dass man die Feinheiten von mehrstimmigem Chorgesang und die Differenziertheit der Bläser hört, ist für ein derart riesiges Open Air schon sehr ungewöhnlich. Und macht enormen Spaß, zumal der „Boss“ dabei sein neues Soul-Belcanto mit großer Ernsthaftigkeit und erstaunlich perfekt vorführt. Was ihn im Duett mit dem eindrucksvollen Falsett des Background-Sängers Curtis King Jr. zu Höchstform auflaufen lässt. Das unterstreicht nach einem weiteren Fundstück aus dem Back-Katalog („Mary‘s Place“) eine interpretatorisch brillante Version der Hymne „The River“.

Bis „Last Man Standing“ hat der auch als Geschichtenerzähler auf der Bühne gefeierte Springsteen nur ein paar Mal „Ihr sehr gut aus!“ ins Publikum gerufen und einmal „Hockenheim!!!“ in einen Song eingebaut. Nun erzählt er vor „Last Man Standing“ bewegend vom Tod des letzten Mitglieds seiner Schülerband aus den 60er Jahren und macht daraus ein Stück inspirierende Alltagsphilosophie inklusive Memento Mori. Das wirkt noch stärker, weil er den dazugehörigen Song solo spielt, gegen Ende nur begleitet vom einfühlsamen Trompeter Barry Danielia. Danach beweist der Hauptdarsteller seinen Sinn für die große ikonische Geste und reckt seine abgeliebte Gitarre in den Sommerhimmel mit den dramatischen Wolken. Es ist wirklich erstaunlich wie intim  sich solche Momente anfühlen, im Bann dieses körperlich nicht sehr großen Stars, den man auf den meisten Plätzen nur auf dem Bildschirm erkennen kann.

© Dorothea Lenhardt

Dann tritt plötzlich wieder der Rock-Kraftprotz ins Bild und donnert "Because The Night" ins Motodrom, als müsste seine Version die von Patti Smith nach Jahrzehnten überholen. Auf „She‘s The One“ folgen mit „Wrecking Ball“ und „The Rising“ zwei zeitlos aktuelle Song-Statements zur Lage der US-amerikanischen Nation aus verschiedenen Jahrzehnten. Gäbe es keine Autorennen, müsste man den Hockenheimring für solche hochmotorisierten Song-Boliden bauen.

„Badlands“ knüpft an die enorme Intensität nahtlos an, leitet aber fast leise und mit großer Finesse per Mundharmonika zu „Thunder Road“ über. Gesanglich ist der „Boss“ jetzt in Hochform, der Band-Sound ist open air kaum zu toppen – mitunter klingen die Bläser aber eine Spur zu sehr nach süßer Soul Music, wo krachender Rhythm `n` Blues besser passen würde.

"Born To Run" klingt perfekt wie auf der CD

Die erste Zugabe „Born To Run“ klingt dann so perfekt, dass man sich kneifen möchte und sich fragt: Ist das wirklich der Sound bei einem megalomanischen Open Air? Aber „Bobby Jean“ führt die Qualität einfach weiter und beeindruckt mit einem seelenzerschneidenden, kraftstrotzenden Saxofon-Solo von Clemons, auf das sein Onkel stolz gewesen wäre. Nach dem bläsergetragenen "Glory Days" lassen der Boss und sein Gitarren-Edeldomestik Little Steven eine Comedy-Einlage folgen, die auf dem Ring wieder Club-Atmosphäre aufkommen lässt. Aber das immer mitreißende "Dancing In the Dark" erinnert daran, mit wem wir es hier zu tun haben: einer der größten Rock-Bands der Welt. Trotzdem endet der Abend in der kleinen Form: "I'll See You In My Dreams" singt Springsteen solo zur Akustikgitarre einen Abschiedsgruß. Wenn es ein Wiedersehen gibt, dann hoffentlich in einer besseren Welt.

Ressortleitung Stv. Kulturchef

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