Mannheim. Das erste Konzert der Red Hot Chili Peppers (RHCP) in Mannheim hält am Montagabend alles, was der große Name der US-Crossover-Rocker verspricht - und mehr. Denn manchmal ist mit 18 Songs alles gesagt. Beim Quartett aus Los Angeles gibt es dazu zwei Besonderheiten, die man bei Bands in der Stadion-Liga heutzutage kaum noch findet: einen ausgeprägten Hang zur ausführlichen Improvisation - vor allem von Gitarrist John Frusciante, aber auch bei Bassist Flea.
Das inszenieren die beiden so kreativ und eindrucksvoll im atemberaubend rasanten Intro-Jam und zwischen vielen Songs, dass die meisten der rund 35 000 Fans auf dem Maimarktgelände diese ausgelebte musikalische Genialität genießen. Selbst wenn sie eigentlich gekommen sind, um haufenweise Hitballaden mitzusingen.
Keine Formschwankungen beim Frontmann
Die zweite Besonderheit: Bis auf Axl Rose ist die Form keines Stadion-Band-Frontmanns so schwankend wie die des Pepper-Sängers. Anthony Kiedis erlebt beim einzigen Deutschland-Konzert seiner Band aber geradezu eine Sternstunde: Die Stimme ist nicht nur kraftvoll und stabil in den langgezogenen melodischen Refrains, auch der komplexe, schnelle Sprechgesang sitzt perfekt auf den funkigen Rhythmen. Kiedis wirkt wie die ganze Band hochkonzentriert.
Dass der Aktionsradius des einstigen Springteufels am Mikrofon überschaubarer bleibt als früher, mag an den Folgen einer komplizierten Sehnenverletzung aus dem Jahr 2012 liegen. Am linken Fuß trägt der 60-Jährige eine bemerkenswert elegante Orthese. Aber vielleicht hat Kiedis auch nur realisiert, wie viel besser seine Gesangsperformance ist, wenn er währenddessen keine Punk-Aerobic-Einlagen vollführt. Wer ganz genau hinhört, bemerkt zwei Wackler in 105 Minuten. Das ist irrelevant, vor allem für einen Sänger aus Kalifornien an einem gegen Ende fast kühlen Hochsommertag.
Brillantes Instrumental-Duett
Michael Balzary alias Flea ist wie Kiedis seit 41 Jahren bei den Peppers - und am Bass eine absolute Bank. Auf das Rhythmus-Fundament, das er und Schlagzeuger Chad Smith legen, kann man immer Rekord-Wolkenkratzer bauen - selbst in den freakigsten Zeiten der Band. Die bei aller Seriosität und Ernsthaftigkeit, die die Funky Monks bei ihrem Open Air in Mannheim an den Tag legen, immer wieder durchscheinen. Und sei es durch den Aufkleber auf Fleas Bass: „Support your local freak“ (Unterstützt euren örtlichen Freak). Gemeint sind die Nachfolger der Hippie-Freigeister, deren Kreativität eine Kultur gebrauchen kann.
Damit wären wir bei John Frusciante. Nichts gegen Josh Klinghoffer, Dave Navarro oder andere Ersatzleute - ohne den 53-Jährigen sind die Red Hot Chili Peppers nur Chili Peppers. Rotglühend und scharf wie ihr eindruckvolles Bühnenbild nach Einbruch der Dunkelheit, wird die Band erst durch dieses emotionale Genie an den Saiten. Allein das improvisierte Gitarre/Bass-Duett vor „Californication“ - fast überstrahlt es den größten Hit des Abends, der intensiv gefeiert wird (wobei die eher genussvolle Stimmung allerdings selten so euphorisch überbordet). Zusammen mit den strahlenden Farben des fließend gebauten Bildschirms ist das der Höhepunkt des größten Konzerts, das die Quadratestadt 2023 erlebt.
Ende der On/Off-Beziehung?
Dass Frusciantes On/Off-Beziehung zur Band mit seiner 2019 Rückkehr nach zehnjähriger Solo-Phase endgültig im „Bis dass der Tod uns scheidet“-Modus bleibt, wäre ein Segen für die Peppers. Auch wenn die beiden 2022 veröffentlichten Studioalben „Unlimited Love“ und „Return Of The Dream Canteen“ nicht die höchsten Erwartungen an diese Traumkonstellation erfüllen.
Es ist auf jeden Fall ein Segen für die Fans, die auf dem Maimarktgelände das fast perfekte Peppers-Konzert erleben - zu dem auch der oft vergessene Doug Warren an Keyboards und Synthesizern entscheidend beiträgt. Und auch die Setlist ist exzellent bestückt: „Around The World“ und „Scar Tissue“ vom Millionenseller-Album „Californication“ sorgen von Anfang an für exzellente Stimmung. Die fünf neuen Songs werden sozialverträglich eingebettet. Wobei „Whatchu Thinkin’“ und das visuell wunderbar sonnig inszenierte „Black Summer“ durchaus zu den Höhepunkten zählen.
Exzellente Konzertdramaturgie
Altgediente Fans werden mit virtuos krachenden Funkrock-Klassikern wie „Me & My Friends“ oder „Suck My Kiss“ bestens bedient. Letzteres leitet Kiedis mit „Hello Mann-motherfucking-heim“ ein - das ist noch seine spannendste Ansage.
RHCP, Iggy Pop und The Mars Volta - die Programme
1. Intro-Jam
2. Around the World (1999)
3. Scar Tissue (1999)
4. Snow ((Hey Oh)) (2006)
5. Here Ever After (2022)
6. Suck My Kiss (1991)
7. Eddie (2022)
8. Soul To Squeeze (1993)
9. Me & My Friends (1987)
10. These Are The Ways (2022)
11. Throw Away Your Television (2002)
12. Tell Me Baby (2006)
13. Whatchu Thinkin’ (2022)
14. Californication (1999)
15. Black Summer (2022)
16. By The Way (2002)
Zugabe:
17. I Could Have Lied (1991)
18. Give It Away (1991)
Iggy Pop
1. Rune (von Noveller als Intro)
2. Five Foot One (1979)
3. T.V. Eye (1969)
4. Modern Day Rip Off (2023)
5. Raw Power (1973)
6. The Passenger (1977)
7. Lust For Life (1977)
8. I Wanna Be Your Dog (1969)
9. Frenzy (2023)
10. Search and Destroy (1973)
The Mars Volta
1. Drunkship Of Lanterns (2003)
2. L’Via L’Viaquez (2005)
3. Graveyard Love (2022)
4. Drunkship Of Lanterns (Reprise)
Aber man kann nicht alles haben. Flea findet nach „Eddie“ die passenderen Worte, um den Fans nach harten Jahren für ihr Erscheinen zu danken - und improvisiert mit hoch verzerrter Stimme auch am Mikrofon wie ein Scat-Sänger. „By The Way“ eskaliert das Erfolgsrezept der Peppers, die Mischung aus zarten Refrains und knüppelhartem Crossover-Alternative Rock, dass man nur jubeln kann.
„Under The Bridge“ wird vermisst
Die Zugabe gehört dem Album-Meilenstein des Rock-Rap-Crossovers: „Blood Sugar Sex Magic“. Die hochemotionale Ballade „I Could Have Lied“ hat man allerdings schon besser gehört. Die Version des Funkrock-Klassikers „Give It Away“ ist dagegen kaum zu toppen. Kiedis, erst jetzt lächelt er das erste Mal kurz, ha t das Netzhemd abgelegt, und präsentiert sich noch einmal in Hochform.
Die braucht er auch, um mit diesem gewaltig pumpenden Kraftwerk von einer Band mitzuhalten. Es ist 22.30 Uhr, wochentags heißt das, es ist Sendeschluss für laute Live-Konzerte in der Musikstadt Mannheim. Trotz der knappen Verabschiedung warten die Fans noch gespannt auf Mehr, vor allem auf die Jahrhundertballade „Under The Bridge“. Vergeblich. Dass sie keinen Platz gefunden hat, bedauern viele. Ansonsten könnte man noch die ungestüme Verspieltheit früherer Jahre vermissen. Das sind die einzigen Makel an einem großartigen Konzert.
Punk-Ikone bestens aufgelegt
Das durch das ungewöhnlich prominente Vorprogramm auch einen mehr als angemessenen Rahmen hat - wie ein exzellent besetztes Mini-Rock-Festival: Punk-Altmeister Iggy Pop humpelt zwar und wollte seinem über Jahrzehnte geschundenen Körper eigentlich keine Tourneen mehr zumuten. Aber in Mannheim präsentiert sich der 76-Jährige bestens aufgelegt, gut gebräunt und bärtig - voller „Raw Power“.
Erst spielt er eher politische Songs, dann holt er mit seinem Klassiker “The Passenger” in einer zum Ende fast feinfühligen Version alle ab. Schnell folgen die anderen Greatest Hits „Lust For Life” und „I Wanna Be Your Dog”. „Frenzy“ vom exzellenten aktuellen Album „Every Loser“ reiht sich in diese illustre Reihe nicht nur ein. Befeuert vom sichtlichen Spielspaß der Band ragt es heraus. Würdiger Abschluss von starken 70 Minuten ist der wütende Stooges-Klassiker „Search And Destroy“. Oder wie Iggy Pop ihn nennt „Search And Fucking Destroy“.
Fast wie Santana
Fast noch eindrucksvoller präsentieren sich The Mars Volta: Ihre epischen vier Songs füllen 30 Minuten mit anspruchsvoller, hochklassiger Musik, die man teilweise kaum wiedererkennt.
Was „Drunkship Of Lanterns“ sein müsste, klingt erstmal wie Latin Rock à la Santana. Dann heben die Texaner vollends ab. Großartig, kein Wunder, dass RHCP diese Band seit 20 Jahren zu ihren Konzerten einladen.
Bilanz von DRK und Polizei
- „Entgegen der Befürchtungen ob der heißen Witterung im Vorfeld verlief das Konzert fast ereignislos“, bilanziert Michael Höhne, Kreisbereitschaftsleiter beim Deutschen Roten Kreuz Mannheim (DRK), auf Nachfrage. Nur 63 Menschen hätten medizinisch versorgt werden müssem, vier davon im Krankenhaus. „Wir waren für Schlimmeres gerüstet.“
- Auch Polizeisprecher Michael Schnell berichtet im Gespräch mit dieser Redaktion am Montag von einem friedlichen, routinemäßigen Ablauf und einem Rückstau im üblichen Rahmen bei der Abfahrt. Lediglich durch den Ausfall eines Zuges der Deutschen Bahn habe es an einer Haltestelle zeitweilig ein übermäßiges Aufkommen von Wartenden gegeben.
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