Das Interview

Jenny über Udo Jürgens: „Kein Thema war bei uns tabu“

Udo Jürgens' Kinder Jenny und John haben mit Sony die Kinderlieder ihres Vaters auf einem Album versammelt. Udo Jürgens schrieb in den 70er Jahren lustige und nachdenkliche Lieder - ein Gespräch mit Tochter Jenny

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Begegneten sich immer auf Augenhöhe: Udo Jürgens mit Tochter Jenny beim Radausflug 1971. © SME/Sony Music Entertainment

Mannheim. Frau Jürgens, auf dem Cover von „Die Blumen blühn überall gleich“ sitzen Sie rittlings auf dem Gepäckträger und halten sich an Ihrem Vater fest, während der mit dem Rad durch die Natur fährt. Wissen Sie, wann und wo das Foto gemacht wurde?

Jenny Jürgens: Das war in Kitzbühel, wo wir zu der Zeit lebten. Ich kann mich noch gut erinnern, wie wir durch diese Wiese mit lauter Löwenzahn gefahren sind. Ich war vier.

Was haben Sie als Vierjährige vom Beruf Ihres Vaters mitbekommen?

Jürgens: Ich wusste, dass der Papa Sänger ist. Man hat ihn sehr oft Klavier spielen gehört, auch daheim hat er immer musiziert. Aber ich war ja noch ein kleines Kind. Wichtiger war es mir, wenn der Papa mal Zeit für uns hatte.

Wie war das Verhältnis von Ihnen und Ihrem drei Jahre älteren Bruder John zum Vater?

Jürgens: Sehr liebevoll und - von früh an - auf Augenhöhe. Wir haben uns immer absolut ernstgenommen und sehr verstanden gefühlt von unseren Eltern. Und am Tisch haben wir liebend gerne mitdiskutiert.

Worüber?

Jürgens (lacht): Über alles. Zusammen sprechen, sich unterhalten, das war immer ganz wichtig für meinen Vater und für uns. Wir haben sehr viel geredet, und wir haben auch sehr offen gesprochen. Es gab bei uns kein Thema, das tabu war. Auch über die Liebe und solche Dinge haben wir uns gut unterhalten können. Mein Vater war zudem ein sehr politischer Mensch, da haben wir Kinder gerne zugehört, auch, wenn wir noch nicht immer alles verstanden haben.

Jürgens und das Album

  • Die Tochter: Jenny Jürgens wurde 1967 in München geboren. Sie ist Schauspielerin, Sängerin und Moderatorin – und die Tochter von Udo Jürgens.
  • Der Vater: Udo Jürgens (1934-2014) hat mit Titeln wie „Ich war noch niemals in New York“ oder „Griechischer Wein“ mehr als 100 Millionen Tonträger verkauft und war damit einer der erfolgreichsten Musiker im deutschen Sprachraum.
  • Das Album: „Die Blumen blühn überall gleich“. Sony.

Ist Ihnen ein Erlebnis in besonderer Erinnerung, das typisch war für Ihre Kindheit?

Jürgens: Wir waren mal in Zürich zusammen essen, in dem sehr feinen und teuren Lokal Kronenhalle. Am Nebentisch saß eine Frau, die einen Leopardenmantel anhatte, und ich habe natürlich die Totalkrise gekriegt. Ich muss so ungefähr zehn gewesen sein und war zu der Zeit ein ziemlicher Hippie. Jedenfalls sagte ich: „Papa, guck mal.“ Mein Vater schrieb dann auf ein Stück Papier so etwas wie „Gnädige Frau, ich hoffe, Sie wissen, dass Leoparden vom Aussterben bedroht sind. Vielleicht denken Sie noch mal darüber nach, ob Sie wirklich solch einen Mantel tragen wollen. Herzliche Grüße, Udo Jürgens“. Den Zettel haben wir der Dame beim Gehen heimlich in die Manteltasche gesteckt.

Sind Sie heute noch Hippie?

Jürgens: Nein, ich bin kein Hippie mehr. Sonst würde ich ein ganz anderes Leben führen. Aber diese Art zu denken und zu leben ist mir durchaus nah und nicht unsympathisch. Ich bin gedanklich lieber ein Hippie als eine konservative Spießerin. Obwohl wir auch durchaus konservativ erzogen wurden.

Welche klassischen Werte waren Ihren Eltern wichtig?

Jürgens: Gutes Benehmen, Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit - diese drei Eckpfeiler des Miteinanders wurden in unserer Familie großgeschrieben. Uns wurde außerdem beigebracht, nicht auf Äußerlichkeiten zu schauen. Viele Leute sehen jemanden mit Anzug und Krawatte und denken, das müsse aber ein seriöser Mann sein. Das ist natürlich völliger Blödsinn, aber gib‘ jemandem einen Titel oder einen Anzug, und die Leute sind immer ein bisschen beeindruckt. Davon muss man sich freimachen. Vielleicht ist derjenige mit dem langen Haar und den Löchern in der Jeans ja Professor am Max-Planck-Institut für Molekularbiologie.

Sind Sie vorurteilsfrei erzogen?

Jürgens: Unsere Eltern haben versucht, uns ohne Vorurteile zu erziehen. Auch, weil wir selber mehr als genug Erfahrungen mit Voreingenommenheit sammeln durften. Gerade in der Schule war es nicht immer leicht, und ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn jemand dir gegenüber eine vorgefertigte Meinung hat, ohne dich zu kennen, oder nur mit dem Wissen, das er oder sie aus der Zeitung hat.

In der Schule war es nicht leicht?

Jürgens: Man wurde gerne auf die Tatsache, dass man die Tochter von Udo Jürgens ist, reduziert. Ich musste lernen, das, so gut es geht, an mir abperlen zu lassen und nicht alles an mich heranzulassen. In jüngeren Jahren war das schwierig, da hat mich vieles gleich stark getroffen. Doch mit der Zeit bin ich widerstandsfähiger und auch pragmatischer geworden. Ich bin 56 Jahre alt, immer noch hochemotional, aber mein Pragmatismus ist wichtig, auch ein Schutz.

Das Video von „Die Blumen blühn überall gleich“ wurde im Jahr 1978 gedreht und sieht supermodern aus. Kinder aus unterschiedlichen Kulturen und mit verschiedenen Hautfarben tragen die Botschaft dieses Songs. Hat Udo Jürgens das Thema Diversität ungefähr 40 Jahre vor allen anderen aufgegriffen?

Jürgens: Ja, zu diesem Zeitpunkt war der Song wirklich außergewöhnlich. Die Kunst meines Vaters ist eben kein Blabla, sondern sie ist komplett zeitlos. Auch nach 45 Jahren hat dieses Lied, wie so viele andere von ihm, noch seine volle Gültigkeit.

Er hat viel vorweggenommen in seinem Schaffen.

Jürgens: Udo Jürgens war immer ein Visionär. In Deutschland gab und gibt es niemand Vergleichbaren.

Ihr Vater ist 2014 mit 80 Jahren unerwartet und auf einem Höhepunkt seiner Schaffenskraft verstorben. Würde er wohl die heutige Zeit kreativ inspirierend finden?

Jürgens: Das wäre sicher der Fall. Während Corona hätte er wahrscheinlich die meiste Zeit in seinem Haus in Portugal verbracht und viel geschrieben. Auch den Krieg in der Ukraine hätte er in einen Song eingebaut. Mein Vater hatte zu jeder Zeit mehr als genug Liedtextstoff gehabt.

Auf dem neuen Album gibt es mehrere Songs, etwa „Es war einmal ein Luftballon“ oder „Jenja“, in denen er sich klar gegen Krieg und Gewalt positioniert.

Jürgens: Frieden und Antikriegsbotschaften spielten immer eine große Rolle in Udos Musik. Egal, ob das nun Kindermusik oder Erwachsenenmusik war. Kinder spüren, wie man sie anspricht. Wenn man ihnen mit Respekt und einer gewissen Ernsthaftigkeit begegnet, vermittelt das ein positives Selbstwertgefühl. Denn das bedeutet ja, dass mein erwachsenes Gegenüber davon ausgeht, dass ich als Kind begreife, was es mir sagt. Und das finde ich wichtig und schön.

Auch die Unterschiede zwischen armen und reichen Menschen sowie der Schutz der Schöpfung und der Umwelt werden von Ihrem Vater thematisiert.

Jürgens: Mein Vater und James Krüss schneiden eben Themen an, die in den siebziger Jahren schon genauso brisant waren wie heute. Ich bin mir sicher, dass man auch schon sieben- oder achtjährige Kinder mit diesen Texten hundertprozentig abholen kann. Kinder in diesem Alter wissen, dass es Hunger auf der Welt gibt, dass es Krieg auf der Welt gibt, dass es verschiedene Hautfarben gibt. Wenn man dies alles in schlichte, aber tiefgehende Lieder packt, schafft man etwas sehr Wertvolles.

Ist „Die Blumen blühn überall gleich“ ein Album für Kinder oder eins für Erwachsene, die vor 40, fünfzig Jahren Kind waren?

Jürgens: Das ist ein Album für alle! Selbst ein sehr lustiges und rockiges Lied wie „Witschi watschi“ hat einen ernsten Kern.

Über zu viel Schwatzhaftigkeit.

Jürgens: Genau. So kann man es interpretieren. Auch wenn es vor 50 Jahren noch kein Internet und soziale Medien gab, könnte man meinen, mein Vater singe darüber mit leichtem Spott. Er hatte einen großen Sinn für Ironie und für Albernheiten, mit denen er nebenbei den Finger ein wenig in die Wunden legte.

Er scheint auch sehr gern gereist zu sein. „So viele Sprachen hat die Erde“ heißt ein Lied, ein anderes „Wir werden das Weltall bereisen“.

Jürgens: Mein Vater war ein Vielreisender. Das Reisen ist eine dankbare Metapher, wenn es darum geht, zur Entdeckung der Welt anzuregen und die Fantasie zu kitzeln. Wir waren ja nicht wirklich als Kinder mit unseren Eltern in Tokio, so wie es im Lied „Wir reisten um die Welt herum“ heißt - und auf dem Mars waren wir übrigens auch nicht (lacht). Aber man kann sich das ja mithilfe eines Liedes wunderbar ausmalen.

Hatten Sie selbst eine lebhafte Fantasie?

Jürgens: Ja, meine Fantasie war sehr groß, meine Gefühle auch. Ich kann mich gut erinnern, wie sehr Musik mich schon als kleines Kind berührt hat. Sie hat mich oft zu Tränen gerührt. Und Millionen anderer Kinder auch. Kinder sind sich ja vom Wesen her überall auf der Welt sehr ähnlich. Gib einem Kind einen Ball, und es wird in Nigeria, in Norwegen, in Deutschland und in Japan dasselbe damit machen.

Gibt es ein Lied auf dem Album, an dem Sie gerade besonders viel Freude haben?

Jürgens: „Der kleine Pepe Sanchez“ habe ich neulich mit meinem Mann zusammen auf der Terrasse gehört. Wir tranken beide ein Glas Weißwein und sangen mit. „Ratatata. Ratatata“ (lacht). Ich stelle mir vor, mit was für einer Begeisterung die Kleinen das im Kindergarten singen werden.

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