Colm Toíbín, den irischen Schriftsteller, kannte man hierzulande bis dato vor allem als Romancier. Den ersten jetzt ins Deutsche übersetzten Lyrikband Toíbíns leiten zwei Gedichte ein, deren Tonlage man endzeitlich nennen möchte. So „September“. Toíbín erinnert sich in dem Gedicht an den Monat dieses Namens im ersten Jahr der Pandemie. Die Straßen sind menschenleer, es ist „die Zeit nach der Zeit, / die Welt sieht hier so aus wie nach dem Ende der Welt“. Im zweiten Gedicht tritt der „letzte Mensch, der seinen Hund ausführte“, auf, bevor das Gedicht auf den Freeway 110 schwenkt: zu einem Dialog mit dem über zwei Trucks „herumturnenden“ Ikarus.
Während das sprechende Ich die Idee der Vergebung der Sünden und die Wiederauferstehung der Seelen anführt, weiß Ikarus schon summarisch, dass „es schon längst über der Zeit ist“. Nichts kann mehr die „Schatten und Schwärze“ der Gegenwart aufhellen. Zumal sich alle Menschen bloß noch um die Dinge des Alltags kümmern.
Düsternis mit gelegentlicher Aufhellung
Ein Anfang in Moll also, auch wenn das dritte Gedicht Dinge wie „Licht, Kabel und sogar das Schöne“ (gemeint ist wohl die - auch sinnliche – Liebe) ins Spiel bringt. Danach geht es freilich erst einmal so düster weiter wie zu Beginn; zumal der Tod, Pandemie hin oder her, in vielen Gedichten ein gewichtiges Wort mitredet. - Allerdings lässt schon der schnoddrige Ausklang von „Mysterium lunae“ aufhorchen. Was mit der Klage über das rätselhafte Verschwinden des Mondes anhebt – es ist „nur der Anfang“ vom Ende -, mündet in die geharnischte Rückforderung des verschwundenen „Dings“: am besten subito, „sofort oder / wenigstens bald“.
Ein neuer Ton, ein frischer und ungemein lebendiger, welthaltiger Zugriff auf die Möglichkeiten der Poesie zeichnet die von Michael Krüger und Volker Schlöndorff in ein wunderbar schnörkelloses, lebensnahes Deutsch gebrachten Gedichte aus. Auch köstlichen Humor und eine gehörige Portion Sarkasmus kennt diese superbe Lyrik.
Natürlich darf in Gedichten eines irischen Katholiken die Religion nicht fehlen. Eines, das mit der in Stein gemeißelten Erinnerung an die Bischöfe von Enniscorthy beginnt, handelt später von der Ersetzung des Lateinischen durchs Englische in der Messe. Wobei Toíbín die Formel „This is my body“ schwer an Motown-Songs erinnert. Köstlicher Witz wohnt einem Gedicht über Auto fahrende Nonnen inne, mit „krachenden Gängen“ und „sich aufbäumenden“ Vehikeln.
Gedichte sind in profunder Erfahrung verankert
Wir lesen von Kennedys Irland-Besuch und Obamas weichem Händedruck beim Empfang einer Gruppe irischstämmiger Amerikaner im Weißen Haus; von Schrödingers Katze und Eva im Paradies - offenbar ein Ort quälender Langeweile. Von der Lebenswichtigkeit des Kinos als Fluchtraum der Träume in Toíbíns Jugend auch. Und davon, dass das Ende des Kapitalismus schwerer vorstellbar ist als das Ende der Welt.
Die toten Eltern und die Erinnerung an sie „bewachen meine Tage“, heißt es an einer Stelle. Vielleicht gehen Toíbíns Gedichte einem deshalb so nahe, weil sie so tief im wirklichen Leben verankert sind: in profunder Erfahrung.
Angaben zum Buch
Colm Toíbín: Vinegar Hill. Gedichte. Aus dem Englischen von Michael Krüger und Volker Schlöndorff . Hanser Verlag, München. 128 Seiten, 24 Euro.
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