Zu Gast im miefigen Wohnzimmersessel
Mannheim. Ich weiß nicht, wer hier wen zuerst verlassen hat, ich das Buch oder das Buch mich. Was ich zweifellos auf meine Kappe nehmen muss: Tagelang habe ich das Cover aus der Ferne beäugt, weder Bild noch Buchstaben haben mich gelockt. Schon klar, Buchtitel sind keine Schlagzeilen, aber warum hat „Beschreibung einer Krabbenwanderung“ keine Neugier in mir ausgelöst? Nach den ersten Seiten bereue ich meinen anfänglichen, inneren Widerstand. Karosh Tahas raue Sprache, das Milieu und Lebensgefühl der Ich-Erzählerin Sanaa fesseln in all ihrer Deprimiertheit, auch ihr Spiel mit den (vermeintlichen) Hirngespinsten. Und so finde ich mich in einem der miefigen Wohnzimmersessel zwischen den zeternden Hochhausfrauen und ihren traurigen Männern wieder und lasse ihre Lebensthemen auf mich wirken. Und dann … kommt nicht mehr viel. Ungefähr ab Seite 137 frage ich mich, wohin diese Geschichte auf den letzten 100 Seiten noch will. Welches Puzzleteil muss sie mir noch aufdecken, damit ich zum allwissenden Beobachter der „Krabbenwanderung“ werde? Das Rätsel um den „Volvomann“ trägt den Plot nur unzureichend, auch die anderen Charaktere schlittern über die Oberfläche an mir vorüber. Nichts und niemand will haften bleiben. Ich beginne durch die Zeilen zu eilen. Noch 90 Seiten, 80, 70, 60. Ich bin froh, als es vorbei ist.
Im Nachhinein wieder die Reue: so ein gesellschaftlich relevanter Stoff, so wenig Gemütsbewegung bei mir. Romane begeistern mich, wenn sie mich entführen und gleichzeitig zu mir selbst bringen. Vielleicht muss ich das Buch einfach ein zweites Mal lesen.
Karsten Kammholz (43), Chefredakteur
Beklemmende Sogwirkung
Die Luft riecht salzig, eine Welle türmt sich auf und bricht. Meine Zehen bohren sich in den Sand vor mir – und in meinem Kopf hallen Karosh Tahas Wörter nach. Das genüssliche Schmatzen einer Frau, die wie eine Kröte aussieht und Baqqe genannt wird. Geräusche, die so gar nicht zu meinem Urlaubsidyll an der portugiesischen Ostalgarve passen. Meine zweijährige Tochter schaut mich erwartungsvoll an. Ich lege das Buch weg, greife nach der Schippe und fange an zu graben. Die warme Brise streift mein Gesicht, und doch habe ich ein flaues Gefühl im Magen. Eines, das von der Lektüre rührt. Da sind Beklemmung und Enge. Wann habe ich mich das letzte Mal so beim Lesen eines Buches gefühlt? Vor vielen Jahren, als ich Ingeborg Bachmanns „Malina“ gelesen habe. Ich erinnere mich, wie ich mich geradezu durchkämpfen musste und doch nicht ablassen konnte. Wie ich immer wieder nach dem Buch mit dem schwarzen Einband griff. Und in diesem Moment weiß ich, dass ich die „Beschreibung einer Krabbenwanderung“ am Abend wieder aufschlagen werde. Weil ich die Erzählung abstoßend und berührend zugleich finde. Weil ich wegschauen und weiter hingucken möchte. Weil ich mit Sanaa fühlen möchte. Mit der jungen Frau, der Schwester, der Tochter. Weil ich mehr wissen will, über die Subkultur des Hochhauses. Weil ich will, dass Sanaa rebelliert. Und sich über die Klarheit ihrer Sprache aus ihrem persönlichen Gefängnis befreit. Ich wünsche ihr Weite und Freude. Einen Tag am Meer mit Luft, die nach Salz schmeckt, und Wellen, die am Strand brechen. Und Sandburgen, unendlich vielen Sandburgen.
Agnes Polewka (35), Redakteurin Metropolregion
Von fremden Mädchen und ihren Feuchtgebieten
Wann immer ich von Mädchen und Frauen lese, die von blutigen Perioden, exzessiven Sex-Eskapaden und masturbierenden Bettbetätigungen erzählen, hallen in mir die Worte eines Kollegen nach: „Ich habe die Schnauze voll von all den Vagina-Monologen neuer Dichterinnen.“ Es stimmt. Und es stimmt nicht. Es stimmt, weil tatsächlich Frauen „Schoßgebete“, „Feuchtgebiete“, „Vagina-Monologe“ oder (Ortswechsel nach hinten) den „Darm mit Charme“ schreiben. Und es stimmt nicht, weil Männer auch über Sex schreiben (aber weniger über Penisse und After). „Beschreibung einer Krabbenwanderung“ gehört zwar nicht in diese Kategorie. Aber mich ekelte, als ich gleich auf den ersten Seiten von Karosh Tahas Genitalgeschützen bombardiert wurde, von den blutdurchtränkten Laken Sanaas und ihrer Schwester Henin, die „mit ungeübten Händen“ schmatzend an ihrer „feuchten Muschi“ fuchtelt und gen Orgasmus segelt. Ich habe nichts gegen literarischen Sex. Im Gegenteil. Aber er muss eingebunden sein in ein Narrativ, in Poesie, in Spannung. Er muss zwingend sein.
Egal. Tahas Roman liest sich gut. Er flutscht rein wie ein kühler Drink. Die Sprache ist einfach. Die Geschichte ist einfach. Ein intimes Buch, erzählt von einer jungen Studentin aus einer Welt, die mir eher fremd ist. Vielleicht ist das ein wichtiges Stück Literatur insofern, als darin wie selbstverständlich die (leider) alltäglichen Probleme, Zweifel und psychologischen Schwierigkeiten der zweiten Migrantengeneration erzählt werden, die sich als schizophren darstellen. Sanaa wandelt auf einem Grat zwischen ihrem ganz in Deutschland verorteten Leben und dem Hintergrund, der sie immer mit einem Bein in einer vergangenen Welt stehenlässt.
Ist das ein Buch für breite Teile der Gesellschaft? Es wäre schön. Ja. Realistischer dürfte indes sein, dass das Buch eher von jungen, weiblichen und ohnehin interessierten Leuten gelesen wird.
Stefan M. Dettlinger (57), Kulturchef
Vertraut und fremd zugleich
Pubertierende, die Stunden im Bad und mit der Hand unter der Bettdecke verbringen, den Jungs nachschauen und heimlich rauchen? Auf den ersten Seiten tat ich mich mit der „Beschreibung einer Krabbenwanderung“ sehr schwer. Da bin ich raus, dachte ich noch – diese Lebenswelt ist längst nicht mehr meine, da bin ich generationstechnisch schlicht drüber. Auch weiter hinten im Buch fand ich keine Figur, mit der ich mich persönlich identifizieren könnte. Die Cannabis rauchenden Omas kämen zwar altersmäßig in die Nähe – von ihrem Alltag her aber gar nicht. Also nahm ich zunächst gemütlich die Rolle einer diskreten Beobachterin ein – und ließ mich von Karosh Taha und ihren starken Bildern in Bann ziehen. Den Roman, als Urlaubslektüre mit an den Gardasee genommen, legte ich nicht mehr zur Seite. Da ist die Familie. Onkel, Tanten, Cousinen und Neffen. Alles Menschen, die so vertraut sind und uns so gut kennen. Und deshalb so erfreuen, aber auch so ärgern können. Aber da ist auch das Fremde, das fasziniert. Die Tante, die mit ihrer Zunge beim Kind eine Augenentzündung zu heilen vermag – gruselig und abstoßend, aber auch beeindruckend. Da sind die Hochhausfrauen. Ein Gebäude als Dorf, ein Mikrokosmos. Ich kenne solche Häuser. Es gibt sie in jeder Stadt. Auch im Ruhrgebiet, wo ich geboren bin. Die Nachbarin, die am Fenster sitzt und der kein Besucher entgeht, die Kinder, die mit Wasserpistolen vom Balkon spritzen. Und da ist das Erwachsenwerden, das anders Einordnen und Urteilen auch über das Verhalten der Eltern. Alles sehr vertraut, irgendwie. Ein starkes Buch.
Michaela Roßner (56), Redakteurin Metropolregion/Heidelberg
Zur Autorin und zur Leseaktion
- Die Autorin: Karosh Taha wurde 1987 in Zaxo im Irak geboren. Seit 1997 lebt sie im Ruhrgebiet. Sie absolvierte ein Lehramtsstudium und lehrte danach Englisch und Geschichte an einem Essener Gymnasium. Die Lehrtätigkeit gab sie nach und nach auf, nachdem ihr Debütroman erschienen ist.
- Die Literatur: „Beschreibung einer Krabbenwanderung“ über die in einem Hochhaus lebende Studentin Sanaa erschien 2018 bei DuMont (Hörspielfassung 2021 bei WDR3 und COSMO). Ihr zweiter Roman „Im Bauch der Königin“ über die gesellschaftlichen Außenseiter Amal, Younes und Shahira erschien 2020.
- Die Preise: Taha erhielt für ihr Werk bereits zahlreiche Stipendien und Preise, darunter das Stipendium Deutscher Literaturfonds, den Hohenemser Literaturpreis und die Alfred-Döblin-Medaille.
- Die Aktion: Das Konzept der Leseaktion „Mannheim liest ein Buch“ ist einfach und international erfolgreich: Jedes Jahr wird ein „Buch der Stadt“ ausgewählt, das ästhetisch heraussticht, das vielleicht auch herausfordert. Vor allem aber soll es Lesende aller Altersstufen und Herkünfte begeistern, weil es Themen behandelt, mit denen sich die Gesellschaft beschäftigt. Teilnehmen sollen und können alle: Schulen, Vereine und Bibliotheken, Theater und Kinos, Unternehmen, Initiativen und die Universität. Organisiert werden Lesungen und Gespräche, Podiumsdiskussionen und Performances, Workshops und Seminare, die um das jeweilige Buch kreisen. Organisieren können sich auch die Menschen in Mannheim selbst: Zu gemeinsamen Lesungen und Diskussionen treffen sich zum Beispiel Hausgemeinschaften und Nachbarschaften, Sportvereine und Seniorenheime.
- Die Auftaktveranstaltung: Am heutigen Mittwoch, 12. Oktober, kommt die Autorin Karosh Taha zum Auftakt der Aktion selbst in die Aula der Universität Mannheim (1. OG, Ostflügel Schloss Mannheim, Bismarckstraße 40, 68131 Mannheim). Taha liest aus ihrem Roman und wird an einem Podiumsgespräch teilnehmen. Im Anschluss signiert sie nach Wunsch mitgebrachte Bücher (Gäste sollten dafür eine Maske tragen). Die Veranstaltung ist kostenlos und keine Anmeldung notwendig. dms
Themen wiegen schwer und wehen doch davon
Gemächlich wandern sie einmal im Jahr ans Meer, um sich dort zu paaren. Die Krabbenwanderung ist in der Tierwelt ein Naturschauspiel. Trotzdem haben die roten Krustentiere, wie ich finde, auch etwas mit dem Roman „Beschreibung einer Krabbenwanderung“ von Karosh Taha zu tun. Denn die Charaktere entpuppen sich beim Lesen für mich als tierische Artgenossen.
Etwa der Vater der Protagonistin Sanaa, dessen rote entzündete Haut mich an Krabben erinnert. Gleichzeitig adaptieren die Figuren Eigenschaften der Tiere. So etwa die Mutter, die zwar zum Paaren ans Meer wandert, seither aber stillsteht und sich im Sand verbuddelt hat, um niemandem aufzufallen. Und die Protagonistin? Wäre sie eine Krabbe, würde sie wohl versuchen, sich im Sand mit scharfen Scheren voranzuarbeiten, um letztlich zu bemerken, dass sie sich nicht vom Sand befreien kann – der an ihr klebt, wie das Wohnviertel als Kulisse.
Es scheint mir beim Lesen fast so, als trüge der Roman diesen Sand mit sich, so schwer kann ich die Seiten nur umblättern – so schwer wiegt das Thema des Buches mit Depressionen, Tod in der Familie, unglücklichen Beziehungen und einer jungen Frau als Protagonistin, die es sich nicht erlaubt, glücklich zu sein. Ich finde es beklemmend, dass sie die Last aller auf ihrem Panzer trägt und sich doch eigentlich vom Sand, in dem sie feststeckt, lösen will. Das gelingt ihr bis zum Ende nicht. So bin ich erleichtert, als ich den Roman endlich zur Seite legen kann; und das Gewicht der Themen. Erstaunlicherweise tragen sich diese nicht weiter. Sondern verflüchtigen sich – fast wie ein Sandkorn vom Wellengang des Meeres.
Vanessa Schmidt (25), Volontärin
Zu viel Tristesse in traurigen Zeiten
Zugegeben, ich bin selbst schuld. Ausgerechnet den Sommer hatte ich mir schwere literarische Kost aufgeladen. Ich erlitt mit den Georgiern die Kriege des 20. Jahrhunderts („Das achte Leben“ von Nino Haratischwili – ein wunderbares, aber entsetzlich trauriges Buch). Dann folgte ich Daniel Kehlmanns „Tyll“ durch den Dreißigjährigen Krieg. Nun also die „Beschreibung einer Krabbenwanderung“. Das Cover wirkte vielversprechend, die knallrote erste Seite auch. Ich hoffte auf ein – endlich! – leichteres, knalliges Buch. Gerade in Zeiten, in denen in Europa ein neuer Krieg entbrannt ist, wir uns um Energie, hohe Preise und Corona sorgen.
Nun ja, die Hoffnung wurde schnell zerstört. Diesmal führte mich das Buch zwar nicht in kriegerische Zeiten, dafür an der Seite der jungen Kurdin Sanaa in eine lähmende Hochhaustristesse. Statt im europäischen El Dorado ist ihre ausgewanderte (Krabben-)Großfamilie dort gelandet, in einem vertikalen System der verpassten Chancen und der gegenseitigen Kontrolle. Karosh Tahas Schreibstil weiß die Stimmung perfekt einzufangen, ich fühle mich, als wäre ich selbst in diesem System gefangen, leide mit der Ich-Erzählerin, die mit detaillierten Beschreibungen von Nasepopeln bis zu unerfreulichen Sexeskapaden die Flucht aus dem Krabbenvolk sucht. Nur: Erfreulich ist das alles nicht. Lösungen gibt es auch nicht. Stattdessen bleiben Lesende deprimiert und ratlos zurück.
Keine Frage, gute Literatur ist das. Aber trotzdem frage ich mich: Ist die „Krabbenwanderung“ wirklich das Richtige für „Mannheim liest ein Buch“? Reicht die Parallele, dass es auch hier Hochhaustristesse, geplatzte Träume von Eingewanderten gibt? Wäre nicht ein mitreißenderes, weniger deprimierendes Buch in diesem Herbst die bessere Wahl gewesen? Ein Buch, das Hoffnung verspricht und zeigt, dass Literatur trösten kann? Eines ist sicher: Meine nächste Lektüre wird aufbauender.
Madeleine Bierlein (50), Nachrichtenchefin
Im Wendekreis der Krabbe
Das erste Mal begegnete ich Karosh Taha bei ihrer Festivalrede zur Eröffnung der Schillertage. Ich mochte nicht alles, was sie sagte, jedoch sofort ihre mutigen Gedanken. Ich folgte ihr auf Instagram, und somit durch Marseille, wo sie damals gerade war, kaufte mir ihr Buch „Im Bauch der Königin“, las es nie. Daher freute ich mich, als ihre „Krabbenwanderung“ auserwählt wurde.
Und dann begann ich zu lesen. Zugegeben, es war keine Liebe auf den ersten Blick. Das Werk gleicht in dieser Hinsicht meiner Heimat. Mannheim ist nicht liebreizend, und auch das Buch verwehrt sich auf den ersten Seiten mit seinen Sprüngen und Schachtelsätzen. Zwischen den Zeilen wie auf den Straßen braucht es ein paar Momente, bis man das Gefühl, den Vibe, erfasst hat. Aber dann spürt man die Wärme, lernt die Menschen kennen, ist fasziniert von den Kulturen – und den starken Frauen.
Denke ich zurück, finde ich nicht nur Facetten von Sanaa ihn mir, sondern erkenne mich auch als Tochter, als Mutter. Und ist es nicht das, wonach wir uns in der Literatur sehnen? Es mag sein, dass es nicht jedem und jeder so gehen wird. Taha aber findet eine so bildgewaltige Sprache, einen mitreißenden Schreibstil, dass es mir unmöglich scheint, sich der Wucht zu entziehen.
„Ich glaube, Vergessen ist ein schöneres Geschenk als Erinnern“, heißt es an einer Stelle. Für mich ist der Roman am stärksten, wenn er von der Vergangenheit im Irak erzählt. Ich spüre die Hitze, ich schmecke das Salz, ich renne über die Dächer, springe atemlos von Satz zu Satz, will mit Asija den Mond beweinen. Diese Sehnsucht ist schön und schmerzhaft zugleich. Als die Geschichte zu Ende ist, vermisse ich sie ein wenig.
Eignet es sich daher als Buch für Mannheim? Ich finde, ja. Es gibt mir Einblicke in ein Leben, das ich so nicht kenne, erzählt mir von Problemen, die ich schon wieder vergessen habe, und erinnert letztendlich daran, wie sehr wir als Mensch Heimat sein können.
Anna Suckow (35), Redakteurin Online
Last mit Lust und Leitmotivik
Warum interessiert mich das alles nicht? Mehr noch, warum stößt es mich ab? Darf es das? Müssten mich die Themen Flucht, Vertreibung, Migration, Heimatlosigkeit, nicht stattfindende Teilhabe und Hoffnungslosigkeit nicht mehr ansprechen, beunruhigen, dauernd entsetzen? Nein, müssen sie nicht. Nicht wenn sie so merkwürdig um die Ecke gebogen werden wie von Karosh Taha, die eine gute Beobachterin mit flüssiger Schreibe ist, sich meiner Empfindung nach aber in diesem Buch zu wenig für ihre eigenen Figuren interessiert. So wie sie diese vorstellt und durchhält, interessieren sie mich nicht. Sie sind (meist) eindimensional boshaft, naiv, tratschsüchtig, dumm, durchtrieben oder depressiv. Wobei die Depressiven, Mutter Asija und Onkel Agid, fraglos die Interessantesten sind. Auch das Männerbild nimmt mich wunder. Männer sind hier stets freundliche Sexualdienstleister, abwesende Ernährer, Drogenlieferanten oder einfach skurrile Randfiguren in kaltschweißigen Hochhausfluren, in einer Welt, in der missmutig-bösartige Frauen die Hosen anhaben, Angst verbreiten und heimatliches Brauchtum und Sitten hüten.
Die krabbelnden Krabben werden leitmotivisch ebenso überstrapaziert wie die Sexualitätsmetapher. Spaß macht hier nix. Poetisch oder auch nur sozialromantisch kann ich diesen nikotintriefenden Hochhausmief nicht finden, er ist – begleitet von Arbeitslosigkeit und allgemeiner Depression – das, was in einem solchen Wohnsilo übrigbleibt, wenn die darin lebenden Menschen kunstvoll absichtlich unnahbar bleiben.
Ralf-Carl Langhals (56), Redakteur Kultur
Fast wie in meiner Hochhaussiedlung
Ich will ehrlich sein: So richtig viel anspruchsvolle Literatur habe ich seit dem Ende meines Studiums nicht mehr in die Hand genommen. Häufig fehlt mir die Zeit – oder ich nehme sie mir nicht, je nachdem wie hart man mit mir ins Gericht gehen möchte. Das Angebot, „Die Beschreibung einer Krabbenwanderung“ zu lesen, kam da für mich genau richtig. Während des Lesens habe ich wieder gespürt, was ich an Literatur so mag. Ich liebe es, verschiedene Ebenen in Texten zu erspüren, finde es großartig, wenn wenige Sätze in mir ein Feuerwerk von Bildern und Empfindungen auslösen. Da wäre zum Beispiel die Beschreibung dieser Hochhaussiedlung mit ihren Balkonen, die so vollgestellt sind, dass die Sonne einfach keinen Platz hat. Da wäre die Mutter, die meiste Zeit nur ein Schatten ihrer selbst. Doch dann nimmt sie ihre Tochter plötzlich in den Arm, sagt nur einen Satz und berührt damit vermutlich die tiefsten Ebenen ihrer Seele – wenn auch nur für einen kurzen Moment. Ja, all das ist auch beklemmend. Und doch habe ich beim Lesen oft geschmunzelt; zum Beispiel, wenn die Erzählerin versucht, der verqueren Logik ihrer Tante zu folgen, oder wenn man erfährt, wer sich in der Wohnsiedlung gegenseitig ausspioniert. Das ist doch fast wie in der Hochhaussiedlung, in der ich groß geworden bin, dachte ich mir. Es ist lange her, dass es einem Buch gelungen ist, diese gegensätzlichen Gefühle in mir auszulösen. „Was habe ich da eigentlich gerade empfunden? Und warum ausgerechnet das?“, habe ich mich immer wieder gefragt. Es ist eine bemerkenswerte Leistung, dass dieses Buch mich dazu gebracht hat.
Torsten Gertkemper-Besse (28), Redakteur Neckar-Bergstraße
Harte Realität – bisweilen kaum zu ertragen
Es ist wirklich eine Gabe, Worte so zu wählen, dass sich der Leser oder die Leserin in die beschriebene Situation hineinfühlt. Karosh Taha gelingt das. Ich war beim Lesen in der Hochhaussiedlung eingezogen, mir ging der Mann im Volvo auf die Nerven, ich habe mich vor Omer geekelt und hatte das starke Bedürfnis, Asija an die Hand zu nehmen, um mit ihr weit wegzugehen. Und genau das ist für mich beim Lesen auch zum Problem geworden. Denn ich habe mich in Sanaas Haut extrem unwohl gefühlt. Im ersten Drittel trieb mich noch die Neugier dazu, immer wieder in ihre Welt einzutauchen. Danach musste ich mich immer mehr überwinden, weil ich den meisten Protagonisten nicht mehr begegnen wollte, mir ist regelrecht die Lust vergangen, mich auf Sanaas Leben einzulassen. Und je mehr mir der Herbst in die Glieder rückte, desto entschiedener habe ich das Buch weggeschoben und mich nach einer liebevollen Geschichte gesehnt, nach erfüllten Bedürfnissen, nach Zeilen, die mir guttun. „Beschreibung einer Krabbenwanderung“ tut nicht gut. Es beschreibt eine harte Realität, die bisweilen kaum zu ertragen ist. Dafür war ich gerade nicht gewappnet. Ich weiß nicht, ob es besser gewesen wäre, das Buch im Frühling – mit steigenden Temperaturen – zu lesen. Vielleicht. Im Moment berühren zu viele wahre Geschichten mein Herz, die Sorgen der Menschen, die Existenzangst haben, echte Geldnot spüren. Einen schönen Nebeneffekt hatte das Buch allerdings. Ich habe gemerkt, wie wohl ich mich in meiner Siedlung fühle. Mitten in der Stadt, mit Kurden, die, anders als im Buch beschrieben, echte Herzensmenschen sind.
Angela Boll (45), Redakteurin Mannheim
Ein bedrückender Spiegel der Gesellschaft
Liebe, Trauer, Leidenschaft und Angst – Karosh Taha nimmt Leser mit auf die Reise in das Innerste der jungen Frau Sanaa – einer jungen Studentin mit einer problematischen Familie aus dem Irak. Das beklemmende und unangenehme Gefühl, das Taha auf die Seiten des Romans bringt, projiziert sich dabei Seite für Seite auf den Leser selbst. Doch die fast erdrückende Ehrlichkeit, die uns die Protagonistin Sanaa entgegenbringt, hat mich zwar in ihren Bann gezogen, doch gleichzeitig eine Art Angst in mir geweckt – denn die Welt der jungen Studentin ist keineswegs eine Welt, die ich mit Freude besucht habe. An manchen Stellen musste ich mich fast dazu zwingen, in diese Wirklichkeit zurückzukehren. Nicht etwa, weil der Roman nicht fesselnd oder gar schlecht geschrieben ist, sondern weil die Intimität der Darstellung des bedrückenden Lebens von Sanaa zu wirklich schien.
Es ist kein Roman, der mich von der Realität unserer Welt abgelenkt hat, sondern ein Einblick in die Wirklichkeit vieler Menschen. Dies hat mir Taha schmerzlich bewusstgemacht. Im Roman zeigt sich die Realität einer jungen Frau in jedem Aspekt ihres Alltags – auch in sexueller Hinsicht. Denn als junge Frau ist auch Sex ein Teil ihres Alltags, mit dem sie sich beschäftigt, wie das andere junge Frauen tun würden. Für eine multikulturelle Stadt wie Mannheim ist der Roman eine unangenehme und doch richtige Wahl für die Aktion „Mannheim liest ein Buch“. Es zeigt die Lebenswirklichkeit unserer Mitmenschen schonungslos und ohne Filter und hält uns damit einen Spiegel vor, in den man nicht unbedingt blicken möchte, aber auf jeden Fall sollte.
Lisa Knoll (30), Editorin Social Media
Ein ganzes Hochhaus voller Geschichten
Der Anfang ist ein wenig sperrig. Wenn es um die Frauen in der Familie geht, spielt Sexualität eine große Rolle. Die kleine Schwester masturbiert vergnügt Nacht für Nacht, und für Erzählerin Sanaa sind die Brüste ihrer Großmutter ein Sehnsuchtsort. Ihre Monatsblutung und den heftigen Sex mit dem Liebhaber beschreibt sie detailgenau und sehr direkt. Warum so eine Breitseite?
Schnell wird aber klar: Sinnlichkeit in jeglicher Form ist Sanaas Mutter komplett abhandengekommen. Nach der Flucht ist ihr Körper wie versteinert. Sie schwebt wie ein Gespenst durch die Wohnung in dem Hochhaus, das ansonsten voll prallem Leben ist. Von hier an will ich das Buch nicht mehr weglegen, tauche mit Sanaa mittenrein in ihre Welt, aus der sie so gerne verschwinden würde. Auf der Flucht, so scheint es, haben die Menschen ihre Heimat nicht hinter sich gelassen, sondern einfach mitgebracht, ob sie wollten oder nicht. Dazu hat Karosh Taha ein ganzes Mosaik an Geschichten zauberhaft miteinander verwoben, eindringlich und mit messerscharfem Blick erzählt. Es geht um gefährliche Verführungen – mit Wärme und Zuneigung oder auch mit köstlichen Süßigkeiten. Es geht um Selbstbestimmung und Freiheit, um Familie, Sehnsucht und großen Schmerz – und um Macht und Gewalt, wie sie die hexenhafte Baqqe, halb Zauberin, halb Kröte, auf die Familie ausübt. Als die Geschichte zu Ende ist, fange ich sofort wieder von vorne an. Zu viele Fragen wollen bedacht werden. Was stellt Flucht alles mit den Menschen an? Wer hat dabei wen verletzt, wer ist schuld und wer Opfer? Und was ist mit dieser roten Krabbe aus dem Irak, die ständig auftaucht und wohl auch nicht so recht weiß, wohin? Hochhäuser gibt es in Mannheim jede Menge. Und noch viel mehr Menschen darin. Es gibt also vieles zu bereden. Das Buch lädt geradezu ein zu intensiven Gesprächen an langen Abenden. Vor allem ist es aber wunderschön zu lesen. Eine kluge Wahl.
Sandra Bollmann (53), Redakteurin Südhessen
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