Interview

Mannheimer Philosophie-Professor Bernward Gesang hat Antworten auf globale Krisen

Ob Klimakrise, Armut oder Hungersnot. Globale Krisen scheinen sich derzeit zu verschlimmern. Im Interview erklärt der Philosophie-Professor, wie sie gelöst werden können. Der Weg der "Letzten Generation" führe dabei ins Nichts

Von 
Julius Paul Prior
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Effektiver Klimaschutz: Durch Spenden für den Erhalt des Regenwaldes lässt sich laut Philosoph Bernward Gesang am meisten CO einsparen. © iStockphoto

Herr Gesang, Sie sagen, dass die Pflichtethik im Laufe der Coronakrise widerlegt wurde. Stichwort Triage: Das Alter sollte keinen Einfluss darauf haben, wer ein Krankenhausbett bekommt. Wie handelt der Utilitarismus?

Bernward Gesang: Man ist diesem Ansatz in Italien ja schon ein Stück weit gefolgt. Wenn nur ein Bett zur Verfügung stand, hat das ein junger statt eines alten Patienten bekommen. Das ist ja auch in unseren Alltagsintuitionen tief verankert. Wir finden es tragisch, wenn ein junger Mensch stirbt. Wenn ein alter Mensch stirbt, ist das schade, lässt sich aber auch nicht vermeiden. Und ich fürchte, dass es in Deutschland, wenn die Behandlungskapazitäten ebenso knapp gewesen wären, genauso gelaufen wäre. Das ist mit der Verfassung nicht vereinbar, aber hier hätte man sicher einen Weg gefunden.

Was passiert denn mit den Menschen, die kein Bett mehr bekommen?

Gesang: Wenn es gar nicht anders geht, dann muss man einen 80-Jährigen, der sein Leben gelebt hat, bei der Gesundheitsversorgung den Jüngeren hinten anstellen. Das versucht man natürlich zu vermeiden – man hat diesen Fall nur für den absoluten Notfall vor Augen. Es ist eine Frage, wie man das Gesundheitssystem von vorne herein aufstellt. Das muss man natürlich so machen, dass man niemanden abweisen muss.

Sie behaupten auch, dass uns schon Shopping wichtiger ist als ein Menschenleben. Ist das nicht etwas übertrieben?

Gesang: Es ist so, dass wir in der Praxis ganz andere Dinge tun als in der Rhetorik. Zur Hochphase der Pandemie hieß es natürlich, dass die Weihnachtsmärkte nicht geöffnet werden. Menschenleben sind uns eben wichtiger als Shopping. Wenn man sich aber die Praxis dann anschaut, verrechnen wir laufend Menschenleben mit – banal gesagt – Geld. Wir wissen alle, dass Shopping Verkehrsströme in die Innenstadt bringt, die dafür sorgen, dass Radfahrer bei Unfällen sterben. Das hat auch eine gewisse Wahrscheinlichkeit, die wir dann dagegen verrechnen, unsere Geschäfte aufzumachen. Das ist vielleicht auch unvermeidlich, ich möchte aber darauf hinweisen, dass wir in unserer Praxis etwas Anderes tun als in unserer Rhetorik.

Die Pflichtethik ist also nicht konsistent umsetzbar. Das wird der Interessenethik auch vorgeworfen.

Gesang: Man soll nach dem Utilitarismus so viel Glück wie möglich schaffen – und hätte dann im Extremfall die Verpflichtung, bei jeder einzelnen Entscheidung das Glück zu kalkulieren. Dann wäre man aber nur noch mit dem Kalkulieren beschäftigt, so dass Entscheidungen, die zum Beispiel Schnelligkeit erfordern, ungefällt bleiben. Deshalb kann das Kalkulieren nicht die einzige Entscheidungsmaxime sein. Am Ende geht es ja darum, auch zügig Antworten zu finden. Hier muss dann die Alltagsmoral angewandt werden, kalkulieren muss man in Krisen.

Damit zur nächsten Krise: In der Politik haben wir angesichts des Klimawandels Zeitdruck. Hier kann die Alltagsmoral aber nicht angewandt werden. Wie sollte die Politik jetzt vorgehen?

Gesang: Die deutsche Politik hat sich der Klimaneutralität verschrieben. Will also die eigenen Emissionen abbauen. Ich glaube, dass schon das Ziel zu niedrig angesetzt ist. Wenn es wirklich erreicht werden würde, würde das heißen, dass zwei Prozent der globalen Emissionen wegfallen, was natürlich viel zu wenig ist. Andere Staaten müssten mitziehen, und: Deutschland muss mehr tun.

Was denn zum Beispiel?

Gesang: Im globalen Süden gibt es viel mehr Möglichkeiten, etwas gegen den Klimawandel zu tun, indem man sich zum Beispiel für Moore und Regenwälder einsetzt. Hätte man das frühzeitig gemacht, hätte man am Ende deutlich mehr CO2 einsparen können, als man jetzt durch die ganze Energiewende wegkriegt. Jetzt sollte man sich auch darauf besinnen, den Ländern beim Schutz des Regenwaldes zu helfen. Das Ziel, klimaneutral und klimagerecht zu sein, nützt nichts, denn Deutschland alleine macht keinen großen Unterschied. Es muss global gedacht werden.

Diesen Vorschlag machen Sie auch Individuen. Können diese durch Spenden das Klima retten?

Gesang: Wir haben den Fall, dass die Politik nicht richtig funktioniert. Vor allem global ist sie überhaupt nicht zuverlässig. Deshalb fragt man sich: Was kann ich tun? Natürlich können Individuen das Problem nicht lösen, aber sie können vielleicht etwas Zeit gewinnen, in der die Politik handeln kann. Bloß was die Individuen derzeit tun ist nicht das Optimale. Autoschlüssel wegschmeißen und nicht mehr Grillen – das ist die Standardstrategie. Wenn Sie aber mit einem CO2-Rechner errechnen, was Sie in einem Jahr ohne Fleischessen an CO2 sparen, dann kommen da 450 Kilogramm raus. Dabei haben Sie eine Summe von 650 Euro gespart. Und wenn Sie dieses Geld in den Schutz des Regenwaldes investieren, kommt beim Rechner raus, dass Sie damit ganze 28 300 Kilogramm CO2 sparen.

Ist es wirklich so einfach?

Gesang: Nun ja, es gibt auch Kritik an dieser Strategie. Zum einen kann es sein, dass die Projekte in den Entwicklungsländern misslingen –, dass zum Beispiel der Regenwald abbrennt oder Schädlinge kommen. So hat das Engagement zu nichts geführt. Also kommt es darauf an, Projekte zu wählen, die gut zertifiziert sind. Hier sollte auch beachtet werden, die Strategie mit Armutsbekämpfung zu koppeln, die auch etwas bringt, wenn der Wald abbrennt. Wenn die Besitzer des Regenwaldes, also die Kommunen dort, gut versorgt werden, dann müssen sie den Regenwald nicht mehr an Palmölkonzerne verkaufen. Mit der Spende tut man also etwas gegen Armut und schützt gleichzeitig den Regenwald. Und dieser doppelte Effekt funktioniert auch, wenn nur wenige Individuen mitmachen. Die momentane Standardstrategie funktioniert nur, wenn viele mitmachen.

Spenden Sie auch selbst schon?

Gesang: Ja, ... klar. Ich empfehle auch Spendenprojekte auf meiner Homepage (www.bernwardgesang.de, Anmerkung d. Red.) und sitze zum Beispiel im Beirat der Organisation „fairventures worldwide“, die Wälder in Indonesien wieder aufforstet.

In Ihrem Buch erklären Sie: Eine medienstarke Minderheit kann die Politik schneller zum Handeln in ihrem Sinne bringen. Die Klimaaktivistengruppe „Letzte Generation“ ist medienstark, wird aber heftig kritisiert. Was macht sie falsch?

Gesang: Die Protestaktionen werden laut Umfragen zu 80 Prozent negativ beurteilt. Man muss immer gucken, wenn man Widerstand macht, ob das Ganze Erfolg haben kann – gemessen an den empirischen Umständen. Da spielt die Meinung der Gesellschaft eine Rolle. Und wenn wir dann diese Art von Protest haben, die eher gegen den Klimaschutz spricht, weil viele das als übertrieben oder als nicht zielführend einstufen, dann nützt es nicht, auf derselben Karte zu beharren. Man drückt zwar die persönliche Verzweiflung aus, aber für den Klimaschutz nützt es am Ende nichts. Denn die führt hier nicht zu einem Wandel der Gesellschaft, der in diesem Fall auch das Ziel des Utilitarismus ist.

Zum Aktivismus für Klimaschutz: Darf ich das oder muss ich das sogar?

Gesang: Ich muss etwas gegen den Klimawandel tun. Spenden für den Klimaschutz ist auch moralisch schon nötig, um möglichst viel Glück herzustellen. Sonst nimmt man in Kauf, dass in den nächsten Jahrzehnten Milliarden von Menschen sterben werden und das ist inakzeptabel.

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