Unter dem Titel „Europa Morgenland“ wird seit nunmehr 22 Jahren Schriftstellerinnen und Schriftstellern, deren erste Sprache nicht Deutsch ist, die aber auf Deutsch schreiben, in der Rhein-Neckar-Region ein Forum geboten. Auf dieses Jubiläum machte Eleonore Hefner zu Beginn der Lesung von Olga Grjasnowa, die sie moderierend begleitete, aufmerksam. Grjasnowas Lesung fand im Port 25 – Raum für Gegenwartskunst statt und war bis auf den letzten Platz ausverkauft.
Dies lag sowohl an Grjasnowas Bekanntheitsgrad als auch am Thema. Ursprünglich russischsprachig debütierte die Autorin 2012 mit einem Roman, der unter dem Titel „Der Russe ist einer, der Birken liebt“ Furore machte. In ihrem neuesten Werk, dem 2020 erschienene Roman „Der verlorene Sohn“, taucht sie in ein überaus spannendes Kapitel der russischen Geschichte ein. Es spielt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und hat in der kaukasischen Region seinen Ausgangspunkt, ist also topographisch mit der Biografie der Autorin, die 1984 in der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku geboren wurde, verbunden. Olga Grjasnowas Eltern waren russisch-jüdischer Herkunft. 1996 übersiedelte die Familie nach Deutschland. Hier absolvierte sie ihre Schulausbildung und studierte zunächst in Göttingen Kunstgeschichte und Slawistik, dann in Leipzig Literarisches Schreiben und später erweiterte sie ihren kulturellen Horizont in Polen, Moskau und Israel.
Beim „verlorenen Sohn“ bedient sich Olga Grjasnowa, wie in den Abschnitten, die sie im Port 25 las, deutlich wurde, dem naturalistischen Stil des 19. Jahrhunderts, was sicherlich kein Fehler ist, will man die Leserschaft in eine Zeit entführen, als sich die russische Machtfülle unter dem Zaren Nikolaus I. bedeutend vermehrte und der Kaukasus in den Fokus von dessen Großmachtpolitik rückte.
Die Leitfigur in dem Roman ist Jamalludin, der fiktive Sohn von Imam Schamil. Jener kompromisslose Kämpfer der islamisierten Kaukasier gegen die Russen ist historisch belegt und wurde auch schon in Leo Tolstois Erzählung „Hadschi Murat“ verarbeitet. Dort ist Hadschi Murat der Überläufer, der sich den Russen unterwirft, wohingegen die Geschichte in dem Roman von Olga Grjasnowa auf den Sohn Jamalludin übertragen wird, der als Geisel im Austausch für einen Waffenstillstand nach Petersburg gelangt und dort das reizvolle Leben der Oberschicht am Kaiserhof kennenlernt.
Spannend erzählt die Autorin diese Geschichte, und auf die Frage aus dem Publikum, was sie denn an diesem Stoff so sehr reizte, nennt sie die gegensätzlichen Bilder, die bei den Russen über den Kaukasus verbreitet sind. Einerseits gilt der Kaukasus als ein Sehnsuchtsort, andererseits die Kaukasier als brutale Meuchelmörder. Dieses Bild, das sich bis in die Gegenwart erhalten hat, war eine der Triebkräfte, die sie beim Schreiben bewegten. Multikulturelle Orte, wie Baku und Berlin, wo die Autorin heute mit ihrer Familie lebt, sind der rote Faden, der sich durch ihr literarisches Schaffen zieht. Der Reiz, wie sie sich in den Sprachen ausdrückt, ist ebenfalls ein Thema, das sie beschäftigt; so in ihrem neuesten Werk: „Die Macht der Mehrsprachigkeit“, das 2021 im Dudenverlag erschienen ist.
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