Mannheim. Dem Grunde nach ist das eine ausgemachte Irreführung. Die Lesung eines Schriftstellers aus seinem neuesten Werk hat das Mannheimer Nationaltheater (NTM) da angekündigt. Aber was bekommt das Publikum im voll besetzten Alten Kino Franklin in Wirklichkeit? Eine Glanzstunde des Geschichtenerzählens, gestaltet von einem Mann, der ebendieses Buch zwar in der einen Hand hält und auch ab und an einen Blick hinein wirft, während er in steter Bewegung auf der Spielbühne auf und ab geht. Doch viel mehr als etwas betulich vor- scheint er seine Worte mit Aplomb auf die Leinwand unserer Fantasie aufzutragen, wo sie ein ungemein plastisches, ausdrucks- wie humorvolles, zugleich fast stechend tiefenscharfes Bild formen.
Kurzum: Man bekommt Sasa Stanisic, der zum Beginn des Abends von den Freunden Fatih, Piero, Nico und, nun: Sasa berichtet, die alle etwa 16 sind und in einem Heidelberger Weinberg darüber sinnieren, wie es wohl wäre, wenn es einen Proberaum für das Leben gäbe. Vier Jugendliche, die damit zugleich die eigene, durch ihre Herkunft vorgezeichnete Enge an Zukunftsmöglichkeiten reflektieren. Der Weinberg wird so zu einer „Bühne für Träume“, wie Staniic später sagt.
Neues Buch ist auch als Episodenroman lesbar
„Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne“ lautet der hoffnungslos unhandliche Titel seines aktuellen Buchs (informelle Kurzform: „Die Witwe“), das einerseits ein Band mit Erzählungen ist. So ganz dann aber doch nicht, wie sich im quicklebendig-aufschlussreichen Zwischengespräch mit NTM-Schauspielintendant Christian Holtzhauer zeigt: „Es ist wie ein Episodenroman, ein Mosaikroman lesbar“, erläutert Stanisic. Zwar werde man „immer wieder in verschiedene Welten geführt“ – anfangs ohne viel erkennbaren Zusammenhang. Doch „nach und nach schließen sich immer mehr Kreise“, meint Stanisic.
Stanisic ist einer der besten und lesenswertesten deutschsprachigen Autoren seiner Generation. Vor allem auch ist er ein begnadeter Geschichtenerzähler und Fabulierkünstler, der die eigene Biografie wieder und wieder in sein Schreiben einfließen lässt. Geboren wurde er 1978 im ehemaligen Jugoslawien, floh 1992 vor dem Krieg mit seinen Eltern nach Heidelberg, wo er die Schule abschloss und studierte. 2013 erhielt er das Mannheimer „Feuergriffel“ Stadtschreiber-Stipendium für Kinder- und Jugendliteratur; viele Literaturpreise folgten.
Die Romane „Wie der Soldat das Grammofon repariert“, „Vor dem Fest“ oder „Herkunft“ – letzterer wurde als Bühnenfassung sowohl am NTM als auch am Theater Heidelberg inszeniert und soll nun verfilmt werden – legen mithin grandios Zeugnis davon ab, wie sich das (autofiktionale) Eigene mit der umhüllenden Historie verknüpfen lässt. Auch die abschließend erzählte Titelgeschichte über eine ältere Witwe ist voller Menschlichkeit, Witz, Wärme und leisen Tragik – eine Elegie des Liebens, Verlierens und Findens an einem so gewöhnlichen wie wundersamen Tag, in der Stanisic all die Größe und all das Gewicht der kleinen Dinge spürbar macht.
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