Als dem Franzosen Patrick Modiano vor elf Jahren etwas überraschend der Nobelpreis für Literatur zugesprochen wurde, hatte die Stockholmer Akademie ihn gerühmt „für die Kunst des Erinnerns, mit der er die unbegreiflichsten menschlichen Schicksale wachgerufen und die Lebenswelt während der deutschen Besatzung sichtbar gemacht hat.“ Seine jüdische Identität, Frankreichs Rolle während des Zweiten Weltkriegs (zwischen Kollaborateuren und der Résistance) und die mannigfaltig variierten Paris-Bilder sind wiederkehrende Sujets im Œuvre des am 30. Juli 1945 in Boulogne-Billancourt (bei Paris) als Sohn eines jüdischen Kaufmanns geborenen Schriftstellers.
Bis zu seiner Volljährigkeit lebte er in Internaten, den Weg zur Literatur bahnte ihm der Schriftsteller Raymond Queneau, ein Freund von Modianos Mutter. 1968 debütierte Modiano mit dem Roman „La Place de l‘Étoile“. 1972 erhielt Modiano für seinen Roman „Les boulevards de ceinture“ den Grand Prix du Roman der Académie Française und 1976 den Prix des Libraires für seinen Roman „Villa triste“.
Im deutschen Sprachraum wurde er einer größeren Öffentlichkeit bekannt durch das von Peter Handke übersetzte autobiografische Werk „Eine Jugend“, das 1985 auf Deutsch erschien. Mit seinem Übersetzer Handke verbindet Modiano die Affinität zu einer Art „Flaneur-Prosa“ und die Liebe zu Paris. Seit der Verleihung des Nobelpreises wird Modiano auch hierzulande die ihm gebührende größere Aufmerksamkeit zuteil.
Auch „Die Tänzerin“ spielt wieder in Paris
„1945 geboren zu sein, nachdem Städte zerstört und ganze Bevölkerungen verschwunden waren, muss mich, wie andere meines Alters, sensibler für die Themen Erinnerung und Vergessen gemacht haben“, hatte der französische Autor 2014 in seiner Dankesrede zum Nobelpreis erklärt. Was für Heinrich Bölls Werk Köln, für James Joyce Dublin und für Orhan Pamuk Istanbul, ist Paris für Modiano – nicht nur Heimat, sondern auch unverrückbares Zentrum des künstlerischen Schaffens. „Es handelt sich um Episoden eines geträumten, zeitlosen Lebens, die ich Seite um Seite dem trüben Alltagsleben entreiße“, hieß es im 2014 in deutscher Übersetzung erschienenen Roman „Gräser der Nacht“.
Also kein Wunder, dass der neue schmale Roman „Die Tänzerin“ wieder in Paris spielt, diesmal sogar mit präzise benannten Orten wie „Café Le Raspail“ und Gare d‘Austerlitz. Eine auf den ersten Blick beiläufig erscheinende Begegnung setzt Modianos Erinnerungsschleife in Gang. Der Ich-Erzähler meint, einen seit langem tot geglaubten Bekannten zu erkennen, und spricht ihn an. Modianos Erzähl-Ich ist ein introvertierter, aber dennoch liebenswerter Außenseiter – ein stiller Beobachter seiner selbst und seiner unmittelbaren Umwelt. Er begegnet dem ehemaligen Nachtclubbesitzer Serge Verzini. Zumindest glaubt er dies. Sein Gegenüber kann oder will sich nicht erinnern, reagiert ausweichend. Ist er es oder ist er es nicht, der ihm in den 1970er Jahren ein Zimmer in Paris vermietete?
Der Protagonist war er ein unbekannter Chansontexter und angehender Schriftsteller: „Es war die unsicherste Zeit in meinem Leben. Ich war nichts“, lautet sein Urteil im Rückblick. Anders die „Tänzerin“, die er durch Verzini kennengelernt hatte. Und plötzlich wird die Vergangenheit zur gegenwärtigen, beinahe hautnahen Erinnerung – mit all ihren Möglichkeiten der Fehler, der Schönfärbung und der unbewussten Täuschungen. „Manchmal findet man in Träumen das Licht jener Zeit wieder, genauso, wie es war, in manchen, ganz bestimmten Augenblicken des Tages.“
Eine kleine, aber strahlende Perle im Bücherjahr 2025
Die Tänzerin ist nicht wirklich fassbar, gleichzeitig verehrtes Idealbild und diabolische Chimäre. Sie war lange Zeit von ihrem Kind getrennt. Dieser Sohn Pierre taucht später wieder auf und wird vom Ich-Erzähler am Bahnhof zu einem gemeinsamen Kinobesuch abgeholt. Modiano spielt mit dem Leser, lässt ihn im Nebel stochern. Ist dies erfunden, oder hat es die Begegnungen in der Vergangenheit tatsächlich gegeben?
Wir erleben die parallelen Versuche des Erzählers und der Tänzerin, ihre Erinnerungen zu strukturieren und eine Brücke in den gegenwärtigen Alltag zu schlagen. Von „schwierige Zeiten“ ist die Rede, die „hart“ und „unverständlich“ geworden sind. „Ordnung in die Dinge bringen“, will die Tänzerin, so wie es ihr Ballettlehrer ihr einst mit auf den Weg gegeben hat. Der Erzähler ist der festen Überzeugung, „dass auch die Literatur eine so schwierige Übung war wie der Tanz, nur in einer anderen Form“.
Künstlerroman, stille Hommage an Paris, hintersinnige Selbstreflexion und subtile Einblicke in das Seelenleben eines Poeten – all dies bietet dieser äußerst schlanke Roman. Am Ende resümiert der Ich-Erzähler: „Es gab keine Vergangenheit, keinen erloschenen Stern und keine Lichtjahre, die uns für immer voneinander trennen, es gab nur diese ewige Gegenwart.“
„Die Tänzerin“ ist eine kleine, aber strahlende Perle im Bücherjahr 2025 - suchend, träumend, erinnernd und meisterlich fabulierend auf der „Suche nach der verlorenen Zeit“. Patrick Modiano hat sich und uns als Leser zu seinem 80. Geburtstag reich beschenkt.
Zum Buch
Patrick Modiano: Die Tänzerin. Roman. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. Carl Hanser Verlag, München. 92 Seiten, 20 Euro.
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