„Speed“, die letzte Tanzpremiere der Saison am Nationaltheater Mannheim, hält, was der Titel verspricht: Wie ein Wimpernschlag rast der furiose Doppelabend von Stephan Thoss und Andonis Foniadakis über die Bühne des Schauspielhauses und hält Augen und Ohren der Zuschauer für knapp zwei Stunden auf Trab.
Der wachsende Zeitdruck, die ständige Beschleunigung, die ausgehend von der Industrialisierung und Digitalisierung bis in alle Lebensbereiche hineinreicht, sind viel diskutierte Phänomene. Mit ironischer Distanz und analytischer Genauigkeit nimmt Tanzintendant Stephan Thoss (Choreografie, Bühne und Kostüme) diese Phänomene in seinem neuen Stück „Short Play“ unter die Lupe. Elf Szenen für Gruppen, Duos oder das gesamte Ensemble erzählen kurze Geschichten über das ewige Getrieben-Sein und die Sehnsucht nach Entschleunigung.
Die mit einigen, im Hintergrund ab und an etwas motivationslos laufenden Ventilatoren leider etwas einfallslos gestaltete Bühne bevölkert ein Panoptikum aus grotesken Alltagsfiguren, Business-Karikaturen in rosa geblümten Hemden und Nadelstreifen, überzeichnete Luxusweibchen in bonbonfarbenen Tüllkleidern. Zusammen hetzen, rennen und zucken sie zu rasenden Klavierakkorden oder elektronischen Beats über die Bühne. Dabei scheinen die Tänzer sich noch schneller als die rasenden Rhythmen zu bewegen und kreieren eine beinahe unerträgliche Hektik.
Foniadakis, Tarride und die Vorstellungen von „Speed“
- Andonis Foniadakis stammt aus Griechenland und studierte unter anderem bei Rudra-Béjart in Lausanne. Danach war er für mehrere Jahre in der Kompagnie des Bildermagiers engagiert. Er tanzte außerdem in Werken von William Forsythe, Joachim Schlömer und Jirí Kilián. Als Choreograf arbeitete er mit Compagnien wie dem Ballet de Geneve, Lyon Opéra Ballet, Les Ballets Jazz de Montréal, der Sydney Dance Company und dem National Ballet of Greece zusammen.
- Julien Tarride, Komponist und bildender Künstler, arbeitet seit über 20 Jahren mit Foniadakis und zahlreichen weiteren Ensembles (Martha Graham Dance Company, Dansgroep Amsterdam, National dance company of Wales). Ausgehend vom Studium der klassischen Musik wandte er sich dem Jazz und der elektronischen Musik zu. Alles ist seiner Musik anzuhören.
- Termine: 9. und 13. Juli, 19.30 Uhr (Info/Karten: 0621/1680 150).
Wie ein defekter Roboter
Der skurrile Reigen gipfelt im Auftritt einer manipulativen Clowns-Zirkusdirektorin, die das übrige Ensemble buchstäblich nach ihrer Pfeife tanzen lässt. Zu immer schnelleren Bewegungsabläufen treibt sie eine Gruppe nach der anderen bis zur Erschöpfung an – bis sie selbst wie ein defekter Roboter zusammenbricht. Eine unheimliche Szene, großartig getanzt.
Starke Kontrapunkte setzen Szenen mit Zweier- und Dreiergruppen. Mal überdreht heiter, mal melancholisch beleuchten sie, wie die sich stets steigernde Dynamik soziale Beziehungen beeinflusst. Thoss und sein Ensemble, das hier auch seine schauspielerischen Qualitäten beweist, fangen auf beeindruckende Weise das Lebensgefühl unserer rasenden Zeit ein. Einzig manch zu gewollter Gag, wie der vollkostümierte Pudel oder die schwebende Leuchtstoffröhren-Installation, wären verzichtbar.
Auch wenn es nach der ersten Hälfte kaum möglich erscheint, das Tempo zu erhöhen, belehrt Andonis Foniadakis das Publikum eines Besseren. In seiner 2014 entstandene Choreografie „Kosmos“ entfachen die Tänzer die Energie eines Wirbelsturms. Auch für Foniadakis war Dynamik des urbanen Alltags der Ausgangspunkt.
Und doch geht er das Thema völlig unterschiedlich an. In die Stille tritt eine Tänzerin im abstrakten blauen Kostüm, wie es auch die übrigen Tänzer tragen. Aus ihren Bewegungen entwickelt sich ein Rhythmus, in den immer mehr Tänzer einfallen. Bis mit einem Donnerschlag ein neuer Rhythmus die Herrschaft über die Gruppe zu übernehmen scheint. Julien Tarrides für das Stück entstandene Kompositionen sind ganz Rhythmus und Percussion. Sparsam angereichter mit elektronischen Klängen entfaltet sich ein beeindruckendes Klangbett, das die Tänzer zu einem aberwitzigen Tempo antreibt. Während Thoss’ Bewegungssprache manchmal etwas undeutlich bleibt, erscheint bei Foniadakis jede Bewegung exakt ausgefeilt. Großformatig kreisende Arme, Beine und Pirouetten in außerordentlichem Tempo und Synchronität erzeugen einen wirbelnden Sog, jedoch nicht bedrohlich und hektisch, sondern vielmehr ein faszinierender Zustand purer Energie.
Unglaubliche Kraftreserven
Im Kontrast zur ersten Hälfte des Abends ergibt sich eine besondere Spannung durch die abstrakte Herangehensweise von Foniadakis an das Thema. Nicht das Spiegelbild unsere Zeit steht hier im Zentrum, sondern das archaische Abbild der ständigen Dynamik des menschlichen Lebens-Kosmos. Mit „Speed“ liefert Thoss und sein Team einen fulminanten Abschied von der Bühne des Hauses am Goetheplatz vor der Sanierung. Unglaublich welche Energie- und Kraftreserven die Tänzerinnen und Tänzer am Ende der Spielzeit mobilisieren – und das auf höchstem Niveau! Die Standing Ovations sind mehr als verdient!
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