Stuttgart. Darf man? Oder darf man nicht? – Man darf. Hier wagen sich Besucher mit vorsichtig gesetzten Schritten aufs bunte Farb-Parkett. Dort bewegen sich andere bedächtig bereits mitten im Kunstwerk. Sinnend schreiten sie über den farbigen Boden. In Katharina Grosses weitläufiger Kunstlandschaft im Kuppelsaal des Kunstgebäudes Stuttgart am Schlossplatz stehen Menschen um sich schauend im Raum – oder setzen sacht Fuß vor Fuß.
Wenn freilich selbst ein Museumswärter in Sneakers mitten im Raum Position bezogen hat, ist auch der letzte Zweifel beseitigt: Man darf! Nämlich den Kuppelsaal betreten, und muss nicht mal die Schuhe ablegen. Vermutlich ist es auch gar nicht verboten, in die Hocke zu gehen und den Boden mit den Händen zu berühren. Das omnipräsente Berührungstabu in Kunstausstellungen („Bitte, nicht anfassen!“, „Please do not touch“): Hier gilt es ausnahmsweise nicht.
Von der Leinwand zur dreidimensionalen Kunst
Die buchstäblich raumgreifende Installation „The Sprayed Dear“ von Katharina Grosse gibt der Großen Landesausstellung im Kunstgebäude Stuttgart den Titel. Die Schau steht – so viel zu ihrer Bedeutung – unter der Schirmherrschaft des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann. Neben drei eigens für die Ausstellung geschaffenen neuen Werken sind ganz frühe Arbeiten – wie Malereien in Öl auf Leinwand aus den Achtzigerjahren – zu sehen, die die Anfänge der längst international bekannten Sprühkünstlerin vergegenwärtigen.
Schon während ihres Studiums an der Düsseldorfer Kunstakademie zeigten sich bei Grosse erste Tendenzen, die Flächenkunst der Malerei ins Dreidimensionale zu erweitern. Irgendwann legte sie den Pinsel aus der Hand und ersetzte ihn durch die Spritzpistole. Die kam bis heute auch in zahlreichen Projekten im Außenraum von teils riesigen Dimensionen zum Einsatz – und jetzt in der immersiven, dreidimensionalen Malerei im Stuttgarter Kuppelsaal.
Ein Spaziergang durch farbenfrohe Meereswellen
Der Titel des Werks ist eine Anspielung auf das württembergische Wappentier: einen im Außenraum über dem Kuppelsaal thronenden goldenen Hirsch. In dem begehbaren Kunstwerk selbst bewegt man sich gleichzeitig auf und inmitten von Kunst. Denn nicht nur hat Grosse den gesamten Boden des weitläufigen Rundsaals mit Farbe besprüht. Sie lässt auch eine mächtige, 15 Meter lange Skulptur mit kurvigen, aus zusammengenieteten Aluminiumplatten sich bildenden Formen aus dem Boden wachsen. Auch diese Platten sind besprüht und lassen an gewaltige, skulptural erstarrte Meereswogen denken. Farblich sind sie mit dem Saalboden verbunden und oszillieren wie dieser zwischen unterschiedlichsten Farbtönen. Wie ein Surfer kann sich der Besucher durchs Auge einer Meereswelle bewegen, die, in leicht kubistischer Verfremdung eine Röhre bildend, sich überschlägt.
Die Ausstellung beginnt wenig spektakulär und ganz leise. Im Marmorsaal des Kunstgebäudes am Beginn des Parcours fällt beim Eintreten der Blick auf einen weißen Museumssockel mit einem farbig mit Filzstiften bemalten Ei. Man meint auf diesem Ei ein Boot in blauem Meer treiben zu sehen, unter einem malerisch bewegten Himmel. Dezent tritt dem Werk der Zehnjährigen in einer Raumecke eine Acrylmalerei von 2007 zur Seite: hoch über Kopf platziert, von der Umrissform eines Eis, besprüht mit weichkurvigen farbigen Linien.
Zur Ausstellung
- Staatsgalerie Stuttgart , Konrad-Adenauer-Straße 30. Bis 11. Januar 2026, Di bis So 10-17 Uhr, Do 10-20 Uhr.
- Katharina Grosse , geboren 1961 in Freiburg i. Br., wuchs als Tochter eines Universitätsrektors und der Künstlerin Barbara Grosse in Bochum auf. Sie studierte an den Kunstakademien Münster und Düsseldorf.
- Von 2000 an war sie Professorin für Malerei an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee, später bis 2018 an der Kunstakademie Düsseldorf. Heute lebt sie in Berlin.
- Bekannt wurde Grosse mit teils überdimensional großen , in Farbsprühtechnik entstandenen Kunstwerken . Neben Gebrauchsobjekten wie Möbel besprühte sie etwa auch Treppenhäuser oder Privathäuser.
- Ausstellungen von ihr waren im Museum Kunstpalast in Düsseldorf, im Hamburger Bahnhof in Berlin oder der Wiener Albertina zu sehen. hdfr
Ein Spiel zwischen Geschwindigkeit und Stillstand
Im sich anschließenden länglichen Durchgangssaal füllt ein spektakuläres Gebilde aus weißem Styropor fast vollständig den Raum aus: Auch „Ghost“ ist vor Ort, in situ entstanden. In der Unregelmäßigkeit des zersplitterten und scharfkantigen, mannigfach durchbrochenen Gebildes erinnert die übermannshohe Form entfernt an die ausdrucksvolle Szenerie von Caspar David Friedrichs „Eismeer“. Weckt die Szenerie von Friedrichs Gemälde – ein Sinnbild des Scheiterns – die Assoziation eisiger Erstarrung, so springt davon eine zusätzliche Bedeutungsnuance auf Grosses Skulptur über. Deren lang gezogene, kantige Linienbündel nämlich wecken die Assoziation rasender Geschwindigkeit. Neben Friedrichs Werk gehalten, stellt sich die paradoxe Anmutung rasenden Stillstands ein.
Die dritte raumfüllende, ebenfalls vor Ort entstandene Arbeit ist titellos – ein zwischen Relief und Wandskulptur oszillierendes monumentales Werk aus Leinwand und Aluminium. Der Bildträger Leinwand mutiert darin in mannigfachen Windungen und Faltungen zum plastischen Objekt. Weitere Werke in der Schau von ebenfalls dreidimensionaler Qualität erweitern das Reservoir von Grosses Sprüh-Arbeiten. Schon einige frühe Malereien aus den Achtzigerjahren geben die zentrale Tendenz von Grosses Bildkunst zu erkennen: die, räumlich zu werden.
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