Dass T. C. Boyles Romane nie nur individuelle Geschichten erzählen, ist kein Geheimnis. Stets behandelt der amerikanische Autor in seinen Büchern über die privaten Lebensschicksale seiner Helden hinaus ein gesellschaftlich relevantes Thema -mitunter sogar mehrere, besonders dann, wenn sie in einem Kausalverhältnis zueinander stehen.
In seinem neuen Roman „Blue Skies“ ist das zum einen der Klimawandel mit seinen katastrophalen Auswirkungen; zum anderen das Insektensterben. Wann spielt die Romanhandlung? Aufs Jahr genau lässt es sich nicht bestimmen - nach Corona, freilich nicht in der unmittelbaren Gegenwart. Eher in einer nahen Zukunft, in der sich die Situation des Weltklimas - und mit ihr die ökologischen Probleme auf dem Planeten - noch ein Stück weit verschärft haben.
Die Cullens sind eine typische amerikanische Familie, wenn es das seit dem Wegbrechen der Mittelschicht in den USA überhaupt noch gibt. Fred sichert als Arzt seiner Familie einen gewissen Wohlstand. Während Ottilie, seine Frau, die gute Seele der Praxis war und jetzt die Freiheiten des Ruhestands genießt, bleibt Fred seinen treuen Patienten zuliebe noch ein wenig aktiv. Man hat Niveau und ist gebildet und hört Mozart oder Bach-Kantaten im Klassiksender.
Influencerin mit Python
Cooper, der Sohn, arbeitet als Biologe an seiner Dissertation, während Catherine oder kurz Cat mit dem gut aussehenden Todd liiert ist. Das Paar lebt in einem Strandhaus in Florida. Für Todd, der als Markenbotschafter für Baccardi arbeitet, sind die Armani-Anzüge, die er bei den für seinen Arbeitgeber organisierten Partys trägt, gewissermaßen seine Arbeitskleidung. Auch sonst legt er Wert auf Äußerlichkeiten. Und kann sich dank einer Erbschaft das neueste Modell von Tesla leisten.
Andererseits: Der fundamentalistische Tierschützer und Insektenfanatiker Cooper, Mitte dreißig, bekommt es mit seiner Doktorarbeit nicht auf die Reihe. Ein Abschluss der Arbeit ist nicht in Sicht, während es für Ottilie langsam Zeit wird -„höchste Zeit“ -, dass er die Kurve kriegt. Cat wiederum ist bei ihrer Jobsuche eher nachlässig. Lieber wäre sie Influencerin. Viele Follower hat sie schon - und auch eine gute Idee. Als „Schlangenlady“ könnte sie Sensation machen und vielleicht reich werden: Mit einem Python über den Schultern - als eine Art Accessoire, gleichsam „pret-à-porter“ als Pelzstola-Ersatz - würde sie ausgehen und Fotos und Videos davon auf ihrem Kanal posten. Willie, den schön gemusterten Tigerpython trägt sie fürs Erste noch in einer Tasche durch die Straßen.
Es kommt alles ganz anders als gedacht, nicht nur für Cat. Zwar heiraten sie und Todd in Cats kalifornischer Heimat, bei ihren Eltern. Wobei starke Windböen - Vorboten der drohenden Klimakatastrophe - und als Folge davon ein Stromausfall die ursprünglich im Freien geplante Hochzeitsfeier zerstören; gerade noch, dass das Haus der Cullens vor einer verheerenden Brandwalze verschont blieb.
Das Haus stürzt ins Meer
Ein Jahr später wird eines der beiden Zwillingsmädchen Cats von der Schlange getötet. Als „Python-Mom“ steht sie am digitalen Pranger der sozialen Medien und bald auch vor Gericht. Todd lässt sich von ihr scheiden. Fortan lebt sie mit Tahoe, ihrer zweiten Tochter, in dem von Überschwemmungen bedrohten Strandhaus in Florida. Doch am Ende stürzt das Haus, dessen Gebälk Termiten zerstörten, ins Meer.
Auch Cooper, der Sohn, leidet unter einem unglücklichen Schicksal. Dass er infolge eines Zeckenbisses den rechten Unterarm verliert, führt infolge psychischer Schwierigkeiten zu seinem Abstieg in der Hierarchie des Ausbildungsinstituts. Letztlich spiegelt sich in seinem wie in Cats prekärer Situation ein Stück weit die einer ganzen jüngeren Generation. Dass die Cullens aus den Prüfungen der Zeit am Ende schwer gebeutelt hervorgehen, hat nicht zuletzt damit zu tun, dass die amerikanische Gesellschaft von einer liberalistisch entfesselten Wirtschaft gleichsam als Geisel des Profits gehalten wird.
Das Buch ist in 26 Kapitelunterteilt, die zwischen den Standorten der Figuren hin- und her wechseln: Während Fred und Ottilie in Kalifornien leben und Cooper an einem biologischen Institut nicht weit von ihnen arbeitet, liegt Todds und Cats Strandhaus in einer Kleinstadt in Florida. Die Figuren sind gewohnt lebensnah, plausibel und dabei vielschichtig gezeichnet. Im schnoddrigen Tonfall der Sprache, die doch keineswegs Genauigkeit vermissen lässt, stellt sich der gewohnte, unnachahmliche T. C. Boyle-Sound ein - mit allen übermütigen Schlenkern, Hyperbeln, Übertreibungen: „Sie hatte eine Tonne Lippenstift aufgelegt, und ihr Grinsen war empathisch.“
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