Zeitreise

75 Jahre Grundgesetz - Bewusst keine Verfassung

Vor 75 Jahren ist das Grundgesetz verkündet worden und damit die Bundesrepublik Deutschland entstanden. Warum es diesen Namen trägt und wie die Beratungen verlaufen sind

Von 
Peter W. Ragge
Lesedauer: 
Konrad Adenauer unterzeichnet als Präsident des Parlamentarischen Rates am 23. März 1949 das Grundgesetz. © dpa

Es liegt im Panzerschrank des Bundestags-Archivs in Berlin, und es gibt dafür eigens eine klimatisierte Transportbox. Doch herausgeholt wird das 1396 Gramm schwere, 35 mal 24 Zentimeter große und in bräunliches Pergament gebundene Buch aus Büttenpapier nur sehr selten. Allein Bundespräsidenten und Bundeskanzler leisten ihren Amtseid auf die Urschrift des Grundgesetzes. Selbst bei Ministern wird ein Nachdruck verwendet, nicht das Original, das am 23. Mai 1949 unterschrieben, verkündet worden und dann um Mitternacht in Kraft getreten ist.

Etwas mehr als vier Jahre liegt da die Niederlage Deutschlands im Zweiten Weltkrieg zurück. Die Siegermächte USA, Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich haben das Land besetzt, aber sie sind sich schon lange nicht mehr einig. Vielmehr stehen sich die drei Westalliierten sowie die Sowjetunion inzwischen als Gegner gegenüber.

Schon 1947 schließen Briten und Amerikaner ihre Besatzungszonen zusammen („Bizone“), 1948 kommt die französische Zone dazu, aber noch ohne das Saarland. „Trizone“ wird das Gebilde genannt, und im wieder entstehenden rheinischen Karneval ertönt der Schlager „Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien“, denn noch gibt es keinen neuen Staat, keine Hymne, nichts, nur ab 21. Juni 1948 die D-Mark. Ein bisschen dürfen die Deutschen dabei mitreden, im 1947 geschaffenen sogenannten „Wirtschaftsrat“ mit Sitz in Frankfurt am Main.

Die Westalliierten machen detaillierte Vorgaben

Doch die Alliieren wollen mehr. Den Glauben an einen neuen deutschen Staat einschließlich der sowjetische Zone, der späteren DDR, haben sie angesichts der gewaltigen Spannungen mit Moskau aufgegeben. Am 1. Juli 1948 werden daher die Ministerpräsidenten der neun westdeutschen Bundesländer, die es in den Besatzungszonen bereits wieder geben darf, und die Bürgermeister der Stadtstaaten Hamburg und Bremen nach Frankfurt ins Verwaltungsgebäude des ehemaligen Chemiekonzerns IG Farben einbestellt.

Dort überreichen ihnen die Militärgouverneure der USA, Großbritanniens und Frankreichs in, wie es später heißt, sehr steifer, ja frostiger Atmosphäre unter Vorsitz des US-Generals Lucius D. Clay drei Papiere, später „Frankfurter Dokumente“ genannt. Sie enthalten den Auftrag zur Gründung eines neuen Staates. Dabei geben die Militärs sehr detailliert Grundlinien für die Verfassung vor, formulieren eine Aufforderung zur Überprüfung der Ländergrenzen und beschreiben zugleich, welche Rechte in Form eines Besatzungsstatuts sie sich weiter vorbehalten – etwa alle auswärtige Beziehungen und die Kontrolle über den deutschen Außenhandel.

Ausstellung und Fest

  • Ausstellung: Die Parlamentshistorische Ausstellung des Deutschen Bundestages im Deutschen Dom zeigt die historische Entwicklung des Parlamentarismus in Deutschland. Der Eintritt ist frei.
  • Anschrift: Deutscher Dom, Gendarmenmarkt 1, 10117 Berlin-Mitte
  • Öffnungszeiten: dienstags bis sonntags von 10 bis 18 Uhr, von Mai bis September bis 19 Uhr; montags nur an Feiertagen geöffnet
  • Führungen: Kostenlos für Einzelbesucher und Gruppen bis 10 Personen zwischen 11 und 17 Uhr alle 30 Minuten zu ausgewählten Themen der Ausstellung, Anmeldung dafür nicht erforderlich.
  • Verkehrsanbindung: U-Bahn Linie U 2 und 6, Haltestelle „Stadtmitte“
  • Demokratiefest: vom 24. bis 26. Mai findet rund um das Bundeskanzleramt und das Paul-Löbe-Haus des Deutschen Bundestages in Berlin ein Demokratiefest mit mehreren Bühnen, Aktionsflächen, Dialog- und Kulturangeboten statt, an dem sich alle Verfassungsorgane, die Bundesministerien, Länder und viele zivilgesellschaftliche Institutionen beteiligen. Die Gäste können sich im Reichstagsgebäude auf einer vorgegebenen Route von der Plenarsaal- über die Besucherebene bis zur Kuppel bewegen. In der Präsenzbibliothek kann die Urschrift des Grundgesetzes besichtigt werden. Zudem präsentiert sich der Bundestag am Samstag, 25. Mai, von 11 bis 19 Uhr im ehemaligen Plenargebäude, dem World Conference Center Bonn. pwr

 

Sehr genau geben sie vor, wie die neue Verfassunggebende Versammlung zusammengesetzt sein soll (ein Abgeordneter pro 750 000 Einwohner). Festgeschrieben wird bereits der Föderalismus (weil er „am besten geeignet ist, die gegenwärtig zerrissene deutsche Einheit wieder herzustellen, und die Rechte der beteiligten Länder schützt, eine angemessene Zentral-Instanz schafft und die Garantien der individuellen Rechte und Freiheiten enthält“) sowie die Vorschrift, das ausgearbeitete Papier den Militärs zur Genehmigung zu unterbreiten und danach bei einer Volksabstimmung vorzulegen.

Die Ministerpräsidenten wehren sich gegen den Begriff der Verfassung

Das gefällt nicht allen Ministerpräsidenten. Einmal wollen einige an der Hoffnung festhalten, doch ein einheitliches Deutschland statt einem Teilstaat zu schaffen. Sie wehren sich auch gegen den Gedanken einer Volksabstimmung und den Begriff der Verfassung – noch ist der Wunsch nach Wiedervereinigung groß. Vom 8. bis 10. Juli 1948 beraten die Länderchefs, wie sie auf den Vorstoß der Alliierten reagieren sollen. Sie tagen im Hotel „Rittersturz“ bei Koblenz, weshalb die Tagung als „Rittersturz-Konferenz“ bekannt geworden ist. Am 26. Juli 1948, bei einer erneuten Frankfurter Konferenz, erläutern sie den Alliierten ihre Position, nur einen „Parlamentarischen Rat“ und keine Verfassunggebende Versammlung einzuberufen.

In dem Zusammenhang taucht erstmals die Bezeichnung „Grundgesetz“ anstelle von Verfassung auf. „Wie vom Himmel gefallen stand das Wort vor uns und bemächtigte sich unserer Köpfe und Sinne“, so später Reinhold Maier (FDP), Ministerpräsident des damaligen Landes Württemberg-Baden. Das Wort soll auf den Hamburger Ersten Bürgermeister Max Brauer zurückgehen.

Keine Verfassung, kein Volksentscheid darüber und nur ein provisorischer Staat mit der Chance auf eine deutsche Wiedervereinigung – über diese Positionen haben die Ministerpräsidenten intern und dann mit den Alliierten gerungen. Für sie gibt Ende Juli 1946 stellvertretend der französische General Pierre Koenig das Signal „En avent“ (auf gehts!).

„Ein gutes Haus für alle Deutschen“

Vom 10. bis 23. August werden auf Einladung von Bayern in Herrenchiemsee beim „Verfassungskonvent“ – wie das Gremium offiziell heißt – wichtige Vorarbeiten geleistet. Von den Ländern benannte rund 30 Sachverständige und weitere Experten (nur Männer!) formulieren einen ersten Entwurf, der bereits 149 Artikel enthält, viele indes mit alternativen Formulierungen und dazu Erläuterungen. Das 95-seitige Papier bildet schließlich die Grundlage für den Parlamentarischen Rat.

Mehr zum Thema

Erleben

Berliner Luftbrücke: als die "Rosinenbomber" siegten

Veröffentlicht
Von
Konstantin Groß
Mehr erfahren
Zeitreise

Die Nato wird 75 Jahre alt: Eine bewährte Allianz

Veröffentlicht
Von
Peter W. Ragge
Mehr erfahren
Zeitreise

Attentat auf John F. Kennedy: Der Tod eines Präsidenten

Veröffentlicht
Von
Konstantin Groß
Mehr erfahren

Der trifft sich erstmals am 1. September 1948 im Zoologischen Forschungsmuseum Alexander Koenig in Bonn zur festlichen Eröffnung. Zwar wollen zahlreiche Städte diese Versammlung ausrichten – von Karlsruhe über Koblenz bis Celle und Frankfurt. Dass es Bonn wird, liegt an Hermann Wandersleb, Chef der Düsseldorfer Staatskanzlei. Er kennt sich in dem – überwiegend unzerstörten – kleinen Städtchen am Rhein aus. Es soll ja alles erst einmal nur vorläufig, provisorisch sein. Noch hoffen alle sehr auf die deutsche Einheit – irgendwann.

Ein weit verbreiteter Irrtum aber ist, dass das Grundgesetz zwischen ausgestopften Tieren entsteht. Im Museum Koenig findet lediglich der feierliche Auftakt statt, mehr nicht. Fotos zeigen auch keine Tierpräparate; sie sind mit Vorhängen zugehängt. „Wir beginnen mit dieser Arbeit in der Absicht und dem festen Willen, einen Bau zu errichten, der am Ende ein gutes Haus für alle Deutschen werden soll.“ Mit diesen Worten begrüßte Karl Arnold, der damalige Ministerpräsident Nordrhein-Westfalens, die Gäste. Die 65 von den Landtagen der westlichen Besatzungszonen entsandten Abgeordneten, darunter nur vier Frauen, debattieren und formulieren in der eilig freigeräumten Pädagogischen Akademie Bonn. Es ist jenes längliche weiße Gebäude im Bauhaus-Stil, das man später viele Jahrzehnte lang immer im Fernsehen sieht, wenn es um den Bundestag geht. Konrad Adenauer (CDU), bis zur Machtübernahme durch die Nazis Kölner Oberbürgermeister und Präsident des preußischen Staatsrats, wird zum Präsidenten, der Mannheimer Carlo Schmid (SPD) zum Vorsitzenden des Hauptausschusses gewählt.

Der Mannheimer Carlo Schmid macht wichtige Vorgabe

Aus einer Grundsatzrede von ihm vom 8. September 1948 wird deutlich, worüber der Parlamentarische Rat gerungen hat. Carlo Schmid vertritt die Position, dass trotz der Niederlage im Zweiten Weltkrieg Deutschland als Staat nicht vernichtet sei. Er müsse nicht neu geschaffen, nur neu organisiert werden, um die aktuellen Probleme der Menschen zu lösen. Doch solange die Nation geteilt sei und die Souveränität bei den Alliierten liege, dürfe man keine Verfassung erarbeiten – denn die könne sich nur ein souveränes Volk geben. „Wir haben keinen Staat zu errichten. Wir haben etwas zu schaffen, das uns die Möglichkeit gibt, gewisser Verhältnisse Herr zu werden – besser Herr zu werden als wir das bisher konnten“, so Schmid. Für ihn ist die neue Bundesrepublik nur ein „Staatsfragment“, für das man eben ein Grundgesetz brauche, das automatisch außer Kraft trete, wenn sich „das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung“ einige und eine eigene Verfassung gebe.

Mehr zum Thema

Zeitreise

Der lange Streit im Haus Wittelsbach: Der Reichsapfel als Zankapfel

Veröffentlicht
Von
Peter W. Ragge
Mehr erfahren
Zeitreise

Vergeblicher Aufstand - wie die Badische Revolution in Mannheim ihren Anfang nahm

Veröffentlicht
Von
Peter W. Ragge
Mehr erfahren
Denkmal

Mannheims Wahrzeichen: Die Geschichte des Wasserturms

Veröffentlicht
Von
Peter W. Ragge
Mehr erfahren

Viele Mitglieder des Parlamentarischen Rats sind geprägt von den bitteren Erfahrungen der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus. Über den ersten Satz „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ herrscht daher schnell Einigkeit. Andere Beratungen verlaufen zeitweise sehr kontrovers – gerade zur Frage, wie einflussreich der Zentralstaat, wie mächtig das Staatsoberhaupt und wie selbstständig die Länder sein sollen, aber auch zur rechtlichen Stellung der Kirchen. Lange wird über die Form der zweiten Kammer, ob Senat oder (wie dann beschlossen) ein Bundesrat als Vertretung der Länder, debattiert. Einige Bestimmungen missfallen den Alliierten, als sie im Februar 1949 vorgelegt werden. Sie pochen darauf, dass ihre Frankfurter Vorgaben verbindlich seien, und wollen unter anderem eine vom Bundesstaat unabhängige Finanzausstattung der Länder. Bis Ende April dauern mehrere Verhandlungen der Abordnungen aus Bonn mit den Generälen.

Konrad Adenauer drängt zur Eile. Man beschließe nicht die „Zehn Gebote“, sondern doch nur Regeln für eine Übergangszeit, argumentiert er. Er strebt einen Beschluss am 8. Mai an – bewusst am Tag genau vier Jahre nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands am Ende des Zweiten Weltkrieges. Aber nicht allen Abgeordneten gefällt diese Symbolik. Der Heidelberger Parlamentarier Theodor Heuss (FDP), der spätere Bundespräsident, nennt den 8. Mai „die tragischste und fragwürdigste Paradoxie der Geschichte“, weil „wir erlöst und vernichtet in einem gewesen sind“, wie er mahnt.

Die Uhr zeigt 23.55 an diesem 8. Mai, als Konrad Adenauer als Präsident des Parlamentarischen Rats nach mehr als acht Stunden Verhandlung verkündet, das Grundgesetz sei mit 53 Ja-Stimmen gegen zwölf Nein-Stimmen angenommen. Dagegen stimmten sechs Abgeordnete der CSU sowie die Vertreter der Deutschen Partei (DP), des Zentrums und der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD).

Der Mannheimer Morgen auf WhatsApp



Auf unserem WhatsApp-Kanal informieren wir über die wichtigsten Nachrichten des Tages, empfehlen besonders bemerkenswerte Artikel aus Mannheim und der Region und geben coole Tipps rund um die Quadratestadt

Jetzt unter dem Link abonnieren, um nichts mehr zu verpassen

Die drei westlichen Militärgouverneure billigen am 12. Mai – dem Tag des Endes der Berlin-Blockade durch die Sowjetunion – in Frankfurt am Main das Grundgesetz, melden nur in wenigen Punkten Vorbehalte an. So verweigern sie Berlin wegen des Viermächte-Status der Stadt Stimmrecht im Bundestag und im Bundesrat, lassen aber die Teilnahme von Vertretern des Westteils der Stadt zu. Der britische Militärgouverneur Brian Robertson bezeichnet in seinem Schreiben an Konrad Adenauer das Grundgesetz als Rechtsordnung, „welche die Welt nunmehr als für das Leben eines freien Volkes unerlässlich betrachtet.“

Bundestagswahl statt Volksabstimmung

Schließlich stimmen vom 18. bis 21. Mai zehn der elf westdeutschen Länder für das Grundgesetz – nur Bayern nicht. Es beklagt den nicht ausreichenden Föderalismus und zu großen Einfluss des Bundes auf die Länder. Aber die Bayern beschließen zugleich, dass das Grundgesetz auch für den Freistaat gelten soll, falls zwei Drittel der anderen Bundesländer dem Entwurf zustimmen.

Bei einem Festakt verkündet der Parlamentarische Rat am 23. Mai das Grundgesetz. Adenauer als Präsident, die Abgeordneten und danach die Ministerpräsidenten der elf Länder unterzeichnen das Dokument, der Organist des Bonner Münsters spielt Musik von Georg Friedrich Händel und fast alle deutschen Rundfunkstationen übertragen die festliche Veranstaltung. „Heute beginnt ein neuer Abschnitt in der wechselvollen Geschichte unseres Volkes: Heute wird nach der Unterzeichnung und Verkündung des Grundgesetzes die Bundesrepublik Deutschland in die Geschichte eintreten“, so Adenauer. „Bewegten Herzens“ denke er daran, „dass heute, mit dem Ablauf dieses Tages, das neue Deutschland entsteht.“

Am 14. August 1949 ist die erste Bundestagswahl – mit einer Wahlbeteiligung von 78,5 Prozent. Dieser hohe Wert sei, da es die anfangs von den Alliierten geforderte Volksabstimmung nie gibt, „stets als Zustimmung zum Grundgesetz gewertet worden“, so Michael F. Feldkamp, Historiker beim Deutschen Bundestag. Dass nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland zum 3. Oktober 1990 die ursprüngliche Bezeichnung Grundgesetz beibehalten worden sei, lasse sich „als Respekt vor der Arbeit des Parlamentarischen Rates deuten“.

Redaktion Chefreporter

Copyright © 2025 Mannheimer Morgen

VG WORT Zählmarke