Mannheim. Er fehlt – obwohl ihm das doch so eine Herzensangelegenheit ist. Aber Kurfürst Carl Theodor kann nicht dabei sein, als am 1. Oktober 1772 der Grundstein zur Sternwarte gelegt wird. Vielleicht, weil das ursprünglich für den 29. September angesetzt war, aber verschoben wird? Man weiß es nicht. Der Regent sei wegen irgendwelchen „Vorfällen“ verhindert, der „Ceremonie Höchstselbsten bey zuwohnen“, verlangt über den „Vollzug“ aber einen Bericht.
So schreibt es Leopold Freiherr von Hohenhausen, Gouverneur der Stadt und Festung Mannheim, zudem Präsident der Kurpfälzischen Akademie der Wissenschaften. Andrea und Matthias Wirthwein vom Antiquariat „Wortfreunde“ haben das im Generallandesarchiv Karlsruhe entdeckt, Andrea Wirthwein hat daraus dann eine Bildergeschichte gemacht. Danach berichtet Leopold Freiherr von Hohenhausen am 2. Oktober seiner Kurfürstlichen Durchlaucht, wie er „den ersten Stein nachmittags um 4 Uhr“ in Anwesenheit einer Grenadierkompanie, der hohen Geistlichkeit und „unter Zulauf einer übermässigen Menge Zuschauer“ gelegt habe. Zwei Flaschen Wein, Münzen, zwei Hof- und Staatskalender seien darin verwahrt, alles zur Ehre des Stifters „dieses unvergleichlichen Denkmals“ und „als Kennzeichen unserer dermahligen Glückseeligkeit“.
Erster Standort Schloss
Glückselig ist insbesondere Christian Mayer. Der Jesuitenpater fungiert als Hofastronom bei Carl Theodor. Der Regent schätzt den Wissenschaftler sehr, und dieser unterbreitet ihm 1771 eine 39 Seiten umfassende Denkschrift, wie nötig eine neue Sternwarte sei. Zuvor hat er von Stockholm über Paris und St. Petersburg Sternwarten besucht, dazu teures astronomisches Instrumentarium gekauft.
Zwar verfügt Mayer auf dem Dach vom Mittelbau des Schwetzinger Schlosses über eine Beobachtungsstation, aber klein, eng, schwer zugänglich. Daher müsse ein Neubau in der Residenz her: „Wie sollte Mannheim, die Krone der kurpfälzischen Städte, mit ihrer so vorteilhaften Lage dieser Zierde beraubt sein“, schmeichelt der Astronom dem Kurfürsten und der Residenz.
Zunächst plant Mayer, die neue Sternwarte in einem Eckbauten des Schlosses einzurichten. „Dieser Gedanke musste aber verworfen werden, da der Pavillon schräg gegen den Meridian stand“, so Kai Budde, der sich von 1986 bis 2013 als Konservator am Technoseum mit dem dort erhaltenen Instrumentarium von Mayer befasst hat. Man hätte wegen des Gewichts der astronomischen Geräte obendrein die Mauern verstärken müssen.
Zu schwache Mauern
Doch eine zweite Idee reift heran: Mayer schlägt vor, einen schon bestehenden, alten Observationsturm auszubauen – auf dem Gebäude des Jesuitenkollegs zwischen dem Schloss-Westflügel und der Jesuitenkirche. Heute sind dort auf der einen Seite das Amtsgericht, dann der Bau des Katholischen Stadtdekanats – unterbrochen von der Bismarckstraße. Als die Ende des 19. Jahrhunderts als Verbindung nach Ludwigshafen geschaffen wird, muss das Jesuitenkolleg abgebrochen werden – wäre dort die Sternwarte entstanden, gäbe es sie heute nicht mehr.
Besucher-Tipps
Anschrift: Sternwarte Mannheim, A 4,6, 68161 Mannheim.
Anfahrt: Per Auto über die Bismarckstraße. Parkplatz Universität Mensa oder Tiefgarage D 5 Reiss-Engelhorn-Museen. Mit dem Zug bis Hauptbahnhof Mannheim, ab da Stadtbahnlinie 1 oder 5 bis zur Haltestelle Schloss, zehn Minuten Fußweg.
Offene Sternwarte: Sonntag, 23. Oktober, 11 bis 13 Uhr freie Besichtigung mit Infos in den Stockwerken.
Termine: Do., 13. Oktober und Do., 27. Oktober, 16 Uhr, Führung zur Geschichte der Sternwarte mit Kai Budde, Fr., 21. Oktober, 17.45 Uhr „Sternwarte zwischen Tag und Nacht“ Führung, Aufstieg auf den Turm, Blick über die Kurpfalz mit Sonnenuntergang mit Reinhard Betz, sowie Sonntag, 23. und 30. Oktober, jeweils 14 Uhr, Vortrag zu den Künstlern in der Sternwarte, Anmeldung per E-Mai an Info@kuenstlernachlaesse-mannheim.de.
Kunstausstellung: Kunstausstellung der Künstlernachlässe Mannheim bis 6. November jeweils Freitag 17 bis 19 Uhr , Samstag 14 bis 17, Sonntag 11 bis 14 Uhr mit Arbeiten der lange in der Sternwarte tätigen Künstler Edgar Schmandt, Norbert Nüssle, Franz Schömbs und Walter Stallwitz.
Ausstellung: Das historische Inventar der alten Sternwarte, viele Instrumente sowie ein Modell der Sternwarte zeigt das Technoseum, Museumsstr. 1, 68165 Mannheim, täglich 9 bis 17 Uhr.
Vortrag: „Greenwich zwischen Rhein und Neckar. Mannheimer Himmelsforschung im Zeitalter der Aufklärung“ mit Alexander Moutchnik am Mittwoch, 5. Oktober um 18 Uhr im Marchivum und (Live-)Stream auf www.marchivum.de.
Buchtipp: Kai Budde, „Das große Buch zur Mannheimer Sternwarte 1722 - 2020“, Großformat, Hardcover,256 Seiten, 256 Abbildungen, Verlag Waldkirch, 65 Euro. pwr
Die Idee eines Türmchens auf dem Jesuitenkolleg gefällt Mayer aber zunächst so sehr, dass er anbietet, einen Teil der Baukosten selbst aufzubringen – aus dem Erlös des Verkaufs der Landkarten, die er von der Sternwarte aus zu erstellen gedenkt. Aber statische Berechnungen zeigen, dass das Gemäuer zu schwach für die neue Funktion wäre. Zudem hätte der Zugang zum Observatorium über den Turm der Jesuitenkirche geführt – was weder dem Jesuitenpater noch dem Kurfürsten gefällt. „Möglicherweise war diese Planung nicht repräsentativ genug für eine kurfürstliche Sternwarte“, nimmt Budde an.
Teurer als geplant
So entsteht dann doch nach Plänen des italienischen Architekten Rabaliatti und des Artillerie-Leutnants Johann Lacher das achteckige, 33 Meter hohe Gebäude mit weiß verputzten Wandflächen, kontrastierend zu dem warmen Rot der behauenen Sandsteine. Der Kurfürst bewilligt es am 21. April 1772.
Mitfinanziert wird er vom Jesuitenorden, auf deren Grundstück er steht und der daher das Recht eingeräumt bekommt, den jeweiligen Leiter zu bestimmen. Noch vor Fertigstellung des Baus verbietet Papst Clemens XIV. aber im Juli 1773 den Jesuitenorden – was erst 1814 Papst Pius VII. rückgängig macht. Aber auf Mayer hat das keine Auswirkungen. Carl Theodor schätzt ihn so, dass er ihn als Hofastronom und Universitätsprofessor im Amt lässt.
Die Sternwarte wird, man kennt das von heutigen Baustellen, viel teurer als geplant. Einschließlich Instrumente, Mobiliar und späteren Umbauten summieren sich laut Budde die Kosten auf 83 0000 Gulden. Ein Manufakturarbeiter, so rechnet Budde vor, hätte seinerzeit 345 Jahre dafür arbeiten müssen.
Am 3. Januar 1775 bezieht Mayer die Dienstwohnung im ersten Obergeschoss. Aber sie ist eine Baustelle, feucht und unvollständig möbliert, wie Budde alten Aufzeichnungen entnimmt. Und weil sich Mayer schwer erkältet, beginnt er seine Forschungen erst im Herbst 1775.
Lange lebt Mayer nicht in dem Turm, sondern er zieht wieder zurück ins Jesuitenkolleg, denn er ist mit den Möbeln und dem Komfort nicht zufrieden. Solche Klagen sind auch von später hier lebenden Astronomen überliefert. Aber bunt muss es früher in dem Barockbau gewesen sein – aus erhaltenen Malerrechnungen lässt sich erkennen, dass helles Grün, dunkles Braun, aber auch Rosenrot, Silber, helles Grau, Strohgelb und Leinblau vertreten sind.
Die Doppelsterne
Mayer sei in seiner Zeit in dem Barockbau ein „eifriger und vielseitiger Forscher“, findet Budde. Er befasst sich mit den damals bekannten fünf Planeten, ihren Monden, mit Mond- und Sonnenfinsternissen. Sein Hauptinteresse gilt den Doppelsternen. Von den 1781 bekannten 79 Doppelsternen beobachtet Mayer allein 72 Doppelsterne. Er unterscheide dabei, so Budde, optische und physische Sternenpaare, also Sonnen, die nicht nur optisch dicht nebeneinanderstehen, sondern sich auch umkreisen. Die Ergebnisse seiner Forschung veröffentlicht er 1777. Nach seinem Tod 1783 bestätigt der deutsch-britischen Astronomen Friedrich Wilhelm Herschel seine Theorien.
1778, als Carl Theodor sein bayerisches Erbe antreten muss und der kurfürstliche Hof nach München übersiedelt, bleibt Mayer im Amt – und die Sternwarte „die einzige erhaltene und funktionierende Einrichtung der Kurpfälzischen Akademie der Wissenschaften in Mannheim“, wie Budde hervorhebt.
Noch von München aus verfügt der Kurfürst 1780, dass eine Meteorologische Gesellschaft der Pfalz gegründet und die Sternwarte – auch als wichtiger Teil des europäischen Wetterbeobachtungsnetzes – in Betrieb bleiben soll. Die seinerzeit von Johann Jakob Hemmer (1733–1790) eingeführten festen Uhrzeiten 7, 14 und 21 Uhr Ortszeit, zu denen meteorologische Daten wie Windstärke, Luftdruck oder Temperatur festzuhalten sind, gelten als „Mannheimer Stunden“ noch heute.
Am 16. April 1783 stirbt Mayer. Es „durchstreift sein Geist auf ewig, Glücklich und von Bindungen frei, die Reiche der Gestirne“, wie es auf seiner Grabplatte in der Gruft der Jesuitenkirche heißt. Wie sehr er bis in die Moderne geschätzt wird, zeigt, dass sogar ein Mondkrater nach ihm benannt ist. Für kurze Zeit folgen ihm Karl-Josef König (ab 1784) und Johann Nepomuk Fischer (ab 1786), der einen Neubau der Sternwarte im damaligen Festungswall fordert, damit aber wegen hoher Kosten scheitert und Mannheim verlässt. 1788 übernimmt Peter Ungeschick, der nach zwei Jahren stirbt.
Nächster prägender Hofastronom ist ab 1790 Roger Barry, der sich aber wegen seines wenig jesuitischen Lebenswandels wenig Freunde macht. Er befasst sich mit der Berechnung von Fixsternhöhen und seit 1805 mit der Berechnung der Zenitdistanzen der Hauptsterne im Tierkreis. Sein Ziel, die Erstellung eines neuen Sternenkatalogs, kann er indes nicht vollenden. Als Barry 1813 in Mannheim stirbt, hinterlässt er 14 500 Notizen zu Beobachtungen der Jahre 1807 bis 1811. Einem Protokoll einer Besichtigung von 1799 zufolge solle er aber auch eine „ohnglaubliche Unordnung“ hinterlassen haben, die auf seine Nachlässigkeit zurückgehe, nicht allein auf französischen Beschuss während der napoleonischen Kriege. Aber nicht nur der Krieg trägt laut Budde dazu bei, „dass die Sternwarte in kurzer Zeit den Glanz, den ihr Mayer gegeben hatte, verlor“.
Wissenschaftliche Bedeutung hat laut Budde erst wieder der Astronom Friedrich Bernhard Gottfried Nicolai, der 1816 in das ab 1803 badisch regierte Mannheim kommt. Zuvor muss die neue badische Regierung aber die Räume versiegeln. In letzter Minute kann sie verhindern, dass die Instrumente der Sternwarte beim Wechsel von der Kurpfalz nach Baden an die Universität Heidelberg übergehen – wie die Universität das in den Wirren des Übergangs mit den Münchner Erben von Carl Theodor, denen das egal ist, vereinbart.
Aber eine große Zukunft hat die Sternwarte nicht mehr – zumindest astronomisch. Eine wichtige Rolle spielt sie indes noch bei der Landvermessung in Baden – die Mitte des Türmchens der Sternwarte bildet den Nullpunkt des badischen Koordinatensystems.
Keine freie Sicht mehr
In den Jahren 1847 bis 1860 ist sie nicht besetzt. Durch den Einsatz des Bonner Astronomen Friedrich W. A. Argelander wird 1860 die Astronomenstelle seinem Schüler Eduard Schönfeld übertragen. Der letzte Astronom in A 4 ist bis 1880 Carl Wilhelm Friedrich Johann Valentiner. Dann verhindert die zunehmende Industrialisierung Mannheims die Fortführung der Astronomie, weil die ursprüngliche freie Sicht auf den Horizont verbaut wird und der Rauch aus den Fabrikschornsteinen den Himmel verdüstert.
Die astronomische Forschung, die wissenschaftliche Bibliothek und die astronomischen Geräte kommen nach Karlsruhe, wo das Großherzogtum eine neue Sternwarte bauen will – was aber nie realisiert wird. In Mannheim will die Stadt den verwaisten Turm erwerben und das Gebäude mit seinen immerhin 2,50 Meter dicken Wänden als Wasserturm nutzen – der Verkauf scheitert jedoch. Stattdessen ziehen ein Antiquitätenhändler und städtische Bedienstete ein, 1908 der Bildhauer Hermann Taglang – die erste künstlerische Nutzung.
Buchhandel und Künstler
Nach dem Ersten Weltkrieg dient die Plattform einer Camera Obscura, die Besuchern ein gespiegeltes Panorama von Mannheim bietet. Im Januar 1925 pachtet Franz Schwender den ganzen Turm – bis auf eine Wohnung, die Prälat Josef Bauer von der Jesuitenkirche nutzt. Schwender wohnt im Turm, kümmert sich um die Camera Obscura und richtet eine Buchhandlung im Erdgeschoss ein – aus der die heutige, von Nachfahren betriebene Bernhardus-Buchhandlung in C 3,8 hervorgeht.
Die zuvor in den (später abgerissenen) Wachhäuschen des Schlosses ansässige Freie Akademie von Kunstmaler Henselmann ist ab 1936 endgültig der Vorläufer der späteren Nutzung der Sternwarte als Atelierturm, die im Dezember 1957 der Gemeinderat – nach einer Wiederinstandsetzung der nur geringen Kriegsschäden – beschließt. 1958 bis 2015 werden die Ateliers durch das Kulturamt Mannheim als Förderung an Mannheimer Künstlerinnen und Künstler vergeben – sie dürfen dort freilich nicht wohnen, und die Verträge sehen sogar lange nur die Vergabe an unverheiratete Künstler vor. Jens Trimpin, bekannt für seine „Kunst am Bau“, Gerd Dehof (der das Blumepeter-Denkmal geschaffen hat) Paul Berger-Bergner, Hans Nagel (berühmt für seine Röhrenplastiken), Edgar Schmandt und bis zu seinem Tod im April 2022 Walter Stallwitz haben hier gearbeitet. Inzwischen sorgt eine Bürgerinitiative, nachdem sie erfolgreich für eine Sanierung gekämpft hat, für eine Belebung der barocken Mauern durch Lesungen und Ausstellungen.
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