Heidelberg/Palo Alto. Von der Autobahn soll hier die Rede sein, vom Herzstück unserer Mobilitätsfreiheit. Wir bauen und erhalten sie mit Steuergeldern, wir fürchten sie, wir hassen sie, wir leiden an ihr und können doch nicht ohne sie.
Der folgende Erfahrungsbericht beschreibt die deutsche Autobahn für Freunde in PALO ALTO (Kalifornien). (Der Ort grenzt unmittelbar an die Stanford-Universität und wird oft als Kurzbezeichnung für diese verwendet).
Der Autor - Prof. Dr. Dr. Heinz Walter Thielmann
Erlebnisse auf der deutschen Autobahn: Der Autor verarbeitet in seinem Text - zuweilen ironisch überspitzt, aber in der Grundaussage realistisch - was etwa einem Autofahrer aus den USA unfassbar erscheinen muss, weil es ausgerechnet in dem im Ausland so gerühmten deutschen Ordnungsstaat geschieht.
Zum Autor:
- Studium der Medizin und Chemie sowie Promotion in beiden Fachrichtungen
- verbrachte zwei Jahre mit wissenschaftlicher Arbeit an der Stanford University (Kalifornien)
- wurde zum Abteilungsleiter am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg und Professor für Biochemie an der Fakultät für Pharmazie der Universität Heidelberg berufen
- hielt Vorlesungen und Vorträge an Universitäten in den USA, Kanada, England und Israel
- arbeitete seit seinem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst in mehreren Kommissionen zur Bewertung gesundheitsschädlicher Arbeitsstoffe (insbesondere krebserzeugender Stoffe – Stichwort: Krebsprävention) für Bundes- und Landesregierungsinstanzen
Ein Wissenschaftler hatte es nämlich gewagt, die deutsche Rennpiste zu befahren, ohne sich vorher von Experten der Psyche festigen zu lassen.
Hier sind seine Worte:
Dear friends,
ich hatte Euch bereits in Palo Alto von meinen Plänen erzählt. Ich wollte Deutschland näher kennenlernen. Anlass war eine Vortragsverpflichtung vonseiten des Deutschen Krebsforschungszentrums in Heidelberg. Ihr hattet mir von diesem Abenteuer abgeraten und mich belehrt, dass eine solche Mutprobe schon deswegen überflüssig sei, weil sich doch jedermann auf Kanal 93 unserer TV-Sender die Autobahnkollisionen in Old Germany ansehen könne, und das ohne Gefahr für Leib und Leben, bei einem Glas Wein.
Eure ablehnende Reaktion war verständlich. Dennoch fühle ich jetzt, nachdem ich das Abenteuer überstanden habe (wenn auch zerzaust), Genugtuung, wie ein betagter Golfspieler sie zu spüren mag, wenn er es auf den Gipfel eines ansehnlichen Berges geschafft hätte.
Nochmals zu meinem Reiseplan, diesmal im Rückblick. Als Mitglied der American Automobile Association wurde ich vorgewarnt, was den Automobiltouristen in Deutschland so erwartet. Sogar Auszüge aus der – wie heißt gleich der Zungenbrecher? Strassenverkehrsohrdnung (genau!) – waren darunter. Deutschland sei zwar winzig, hat man mir erklärt, nur halb so groß wie Texas, habe aber ein Vielfaches von dessen Verkehrsunfällen.
Eure zusätzlichen Warnungen hatten mich zwar kleinlaut gemacht, sie waren jedoch zu spät gekommen. Den Leihwagen hatte ich bereits bestellt und bezahlt. Die German Highlights mitsamt Übernachtungen waren gebucht. Heidelberg musste natürlich sein, wegen meines Vortrags. Außerdem hatte ich zugesagt, die Atmosphäre der Romanze „The Student Prince“ irgendwie zu erschnuppern, um sie Euch vermitteln zu können. Bekanntlich wurden Millionen Besucher der Stadt von dieser Schnulze ergriffen, und wenn ich darüber berichten sollte, musste ich natürlich die Orte des Geschehens (sprich: historische Studentenkneipen) genau inspiziert und das „Gaudeamus igitur, iuvenes .. (iuvenes? Nimm´s nicht wörtlich!) ..“ mitgesungen haben. Brennpunkte waren: „Rotes Oxen“, „Schnookeloch“ (what the hell is that?), „Zum Seppl“, u. a.
Auch verschiedene Deutschland-spezifische Mitbringsel wollte ich kaufen, z. B. Ledderhosse mit Edelweiß-verzierten Trägern, Wadenstrumpfe und Gamsbart-Hut für meinen 8‑jährigen Sohn; die Besichtigung von Mad King Ludwig´s Dream Castles standen auf meiner Liste und weitere Vorhaben. Nicht zu vergessen: das Hofbrauhaaus in Munnschen.
Kurzum, wenn ich sehen wollte, was ich mir vorgenommen hatte, brauchte ich ein Auto.
Eines Abends im Oktober landete ich in Düsseldorf. Hier übernahm ich, was man in Deutschland einen Mittelklassewagen nennt, ein karges Ding (verglichen mit unseren Chrom-Festungen), bei dem alles von Hand betätigt werden musste: Sitzposition, Rückspiegel, Beleuchtung, Belüftung, Fahrgänge, Fenster, Schiebedach, Radio, Knopf für Außen-/Innentemperatur, Knopf für Zeitabstände zwischen den empfohlenen Gymnastikübungen, Knopf to indicate places for pipeeing u. a. m.
Ich verlangsamte etwas, da wurde es blendend hell um mich, und es ertönte das Nebelhorn eines Ozeanriesen, das meine Fahrkapsel zum Klirren brachte
Trotz Dämmerung und beginnenden Nieselregens wollte ich noch am selben Abend in Heidelberg sein. No problem, dachte ich, was die Entfernung betraf.
Es war ein Problem. Und was für eines!
Eine unbegreifliche Beklemmung überkam mich, als ich in die vielgerühmte deutsche Autobahn einfuhr. In meinen Ohren hallte noch das Verkaufsargument des BMW-Händlers in Palo Alto: „Der Wagen, der die deutsche Autobahn übersteht, ist Spitze.“ (Seine Marke natürlich; dumm nur, dass ich jetzt in einem Konkurrenzprodukt saß, für dessen Fahrer der Händler nur geringe Überlebenschancen prophezeit hatte.)
Ich verkrampfte, als hätte man mich auf einen Rodeo-Gaul gesetzt, und nun würden Ross und Reiter losgelassen, vor unzähligen Gaffern.
Die Personen- und Lastwagen jagten an mir vorbei, so dass die Druckwellen meinen Wagen schüttelten. Autoschwärme düsten mit mindestens 80 bis 100 Meilen dahin, trotz beginnender Dunkelheit, trotz Regens. Die Wagenlenker stürzten förmlich ihren Zielen entgegen; anscheinend war ihnen per Smartphone mitgeteilt worden, dass ihre Wohnungen brannten, oder ihre Ehefrauen sich davonmachten - samt Sparbüchern -, oder es ging überhaupt um einen der zahlreichen Deutschen Rennpreise. In den Staaten haben wir – allerdings nur einmal im Jahr – etwas Ähnliches, den Cannon Ball Run, bei dem die schnellste Kontinent-Durchquerung von New York nach Los Angeles prämiert wird. Aber nur Wenige melden sich für dieses kostspielige Spektakel, und diejenigen, die mitmachen, dürfen sich nicht erwischen lassen, denn sie können nur gewinnen, wenn sie die gesetzlich vorgegebenen Maximalgeschwindigkeiten überschreiten. Hier dagegen ist der Wettbewerb öffentlich, alltäglich, entfesselt, und alle sind dabei.
Das also war angepasstes Autobahnfahren: Jeder bewegte sich so schnell, dass für ihn keine Steigerung mehr möglich war
Ich, in meiner Mönchsklause, sah nicht weiter als meine Scheinwerfer reichten. Deshalb, und aus Vorsicht überhaupt, hielt ich mich auf der rechten Fahrspur und versuchte, mit den Lastwagen zu segeln. Das ging einige Zeit gut, bis mir auffiel, dass dumpfes Grollen meine Fahrt begleitete und die Wabe eines Kühlergrills das Format meines Rückspiegels füllte. Der zugehörige Laster konnte keine zehn Meter von meinem Heck entfernt sein – und das bei 65 Meilen (etwa 105 km/h), der Höchstgeschwindigkeit in Kalifornien!
Tailgating heißt das bei uns, und ist teuer.
Um mich von meinem Verfolger zu lösen, rückte ich ein wenig auf den vor mir fahrenden Sattelschlepper auf und ertrug, dass der mich einsprühte, wie man es in einer Waschstraße erlebt. Damit war mir auch der Rest von Sicht auf Deutschland genommen. Trotz des Manövers blieb die Kühlerwabe in meinem Rückspiegel unverändert groß. Ich verlangsamte etwas, da wurde es blendend hell um mich, und es ertönte das Nebelhorn eines Ozeanriesen, das meine Fahrkapsel zum Klirren brachte und bei mir jäh Stuhldrang auslöste.
Wie sollte ich mit einem Wasserwerfer vor dem Bug und einem Monster im Heck bis Heidelberg durchhalten? Immerhin lag noch eine Strecke von etwa drei Fahrstunden vor mir! Es war mittlerweile finstere Nacht geworden. Falls mein Vordermann bremste, würde ich zu Brei zerquetscht werden.
Ich hatte keine andere Wahl; ich musste hinaus auf eine der beiden Hochgeschwindigkeitspisten.
Als die Maximalgeschwindigkeit vorübergehend auf 100 km/h eingeschränkt wurde, wagte ich es!
Nun habe ich am Steuer von Autos mehr als zwei Millionen Meilen zurückgelegt und bin keineswegs der „verkehrstechnische Milchzahn“, für den mein Sohn mich hält. Aber bei Dunkelheit und Regen - mit Abblendlicht! - 90 Meilen schnell zu fahren: An diese Kunst habe ich mich in Kalifornien noch nie herangewagt. Hier allerdings musste ich es, denn kaum hatte ich die mittlere Spur erreicht, als schon ein Scheinwerferpaar von hinten heranflog. Erbost schaltete dessen Kutscher seine Scheinwerfer auf Fernlicht.
Gracious me! Das war knapp!
Ich schrumpfte, schuldbewusst, in meiner Gänsehaut und musste einsehen, dass es die Mindestgeschwindigkeit war, die mir das Problem auf der mittleren Fahrspur bescherte. Speed Limit galt so gut wie nichts, Richtgeschwindigkeit gar nichts. (Auf der Profi-Bahn zur Linken, schwante mir, waren solche Hemmnisse überhaupt ausgesetzt).
An der Mauer der Lastwagen nur vorbeizuziehen berechtigte mich nicht, die mittlere Fahrspur zu benutzen, vielmehr musste ich – gegen Tod und Teufel – eine wesentlich höhere Geschwindigkeit aufbringen, und die war erst dann erreicht, wenn hinter mir keiner mehr zur Lichthupe griff. Die Belastungsgrenze für den Hintermann war, dass ihm bei Steigerung des Tempo-Rauschs schwindelig geworden wäre. Das also war angepasstes Autobahnfahren: Jeder bewegte sich so schnell, dass für ihn – zerebral, kurbelwellenpolitisch und nockenwellenhygienisch – keine Steigerung mehr möglich war; damit erübrigte sich die Lichthupe.
Beklommen hielt ich das Gaspedal niedergetreten, um mit dem Schwarm auf der mittleren Fahrspur durch Gischt und Regen zu preschen. Nach anfänglichem Zaudern erreichte ich eine geradezu irre Harmonie: So tanzten minutenlang vor mir zwei rote Funzeln, die zu einem sprintenden Kleinlaster gehörten (hoffentlich hatte dessen Fahrer seine Ladung festgezurrt!); diesen Funzeln folgte ich bohrenden Blicks, auch wenn ich sie immer wieder verlor, weil von rechts die Lastwagen und von links die Rennwagen Sturzbäche auf meine Frontscheibe warfen. Donnerschläge, ausgelöst von Fahrbahnpfützen, verstopften mir die Ohren; die Pfützen bremsten mich auch jäh ab und zerrten mich aus der Spur. Ich parierte mit Gasfuß und hektischem Gegenlenken, wach wie ein angestochener Fechter.
Gleichzeitig blendeten mich die Scheinwerfer eines Verfolgers. Dieser blieb auf Stoßstangenfühlung; er war sich sicher, in mir Al Capone erkannt zu haben, und diesmal musste er mich endlich schnappen.
Sollte mir jetzt irgendein Hindernis in die Quere kommen, ein verlorenes Stück einer Ladung etwa, oder eine bunte Kuh, ich würde nicht einmal bremsen dürfen!
Welch eine Sauhatz! ! !
(Ja, Sie haben recht, Herr Verkehrsrichter, ich bekenne mich schuldig, denn ich war mit völlig überzogener Geschwindigkeit unterwegs. Wäre ich aber langsamer gefahren, hätten mich sogar Schwerlaster vor sich hergetrieben.)
Auf der linken Spur ging es noch schneller voran.
Hier zogen die Meister der Höchstgeschwindigkeit ihre Bahn. Lichtfinger, wie ich sie von Leuchttürmen an der Pazifik-Küste kenne, erschienen zuerst als zitternde Punkte im Rückspiegel, gewannen rasch zu gleißender Intensität, und schon rasten diese strahlenden Untertassen an mir vorbei und verschwanden im Regentunnel vor mir. Dabei wurde ich durchgeschüttelt, als lebte ich in einer Sparbüchse. Meist klammerte sich dabei meine linke Hand spontan an die (selbst stützungsbedürftige) Fensterkurbel, um wenigstens etwas Halt im Beben zu finden. Nach jedem Spuk quietschten die überforderten Scheibenwischer, zur Erinnerung gleichsam.
Noch hielt ich mich zäh auf der mittleren Fahrbahn. Allerdings, wann immer ich meine Geschwindigkeit zurücknahm, um den Abstand zum Vordermann zu vergrößern, stießen Wagen von links oder rechts – ohne Blinkzeichen und zum Greifen nahe – in die Lücke, spritzten mir Fontänen ins Gesicht und zerstückelten meinen ohnehin strafbar kurzen Sicherheitsabstand.
Und dann passierte es!
Ein Lastzug scherte mitsamt dem Wasserfall, den er produzierte, unversehens von rechts nach links aus und drückte mich auf die linke Fahrspur; die exklusive! die heilige!
Wie durch ein Wunder blieb der erwartete Kanonenschlag aus. Was aber nun über mich kam war ein Strafgericht
Im Rückspiegel sah ich noch zwei blauweiße Zwillingslichter aufblitzen, ich erstarrte, und dann waren da nur noch Reifenwimmern und die gellenden Posaunen des Jüngsten Gerichts.
Wie durch ein Wunder blieb der erwartete Kanonenschlag aus. Was aber nun über mich kam war ein Strafgericht. Im Schutz seiner Anonymität hängte sich der Fahrer des Vier-Augen-Renners an mein Heck, hupte unaufhörlich, blendete auf und ab und zermürbte mich mit den Werkzeugen seiner Selbstjustiz. Im Abstand von wenigen Metern verfolgte er mich wie der Hund den Hasen – von der linken Spur auf die mittlere, von der mittleren auf die rechte. Schließlich drängte er mich auf den Standstreifen. Wäre rechts davon ein Vulkankrater gewesen, er hätte mich hineingestoßen.
Und weit und breit war keine Highway Patrol zu sehen, die diesen rasenden Roland hätte stoppen können!
Der Rest meiner Albtraumfahrt ist rasch erzählt. In Frankfurt hatte ich genug vom Spießrutenlaufen. Ich flüchtete in das Flughafenhotel, gab den Wagen zurück, schüttete drei doppelte Whiskies in mich hinein und tastete mich auf mein Zimmer.
Nachtrag
Nun, Stunden später, hat mich die Behandlung mit Spiritus etwas beruhigt. Morgen werde ich mir ein Ticket der Bundesbahn nach Heidelberg kaufen. Jetzt fällt mir auch der Name MARK TWAIN wieder ein. Der Schriftsteller wohnte 1868 mehrere Monate in Heidelberg (heute ist sein ehemaliges Hotel ein Wallfahrtsort); er war mit der Stadt in Hassliebe verbunden und schrieb für seine Leserschaft in den USA über Verrücktheiten in deutschen Ländern, wobei er diese Verrücktheiten besonders an der fehlenden Logik der deutschen Sprache festmachte. So tadelte er, dass jedes Substantiv im Deutschen ein Geschlecht hat, dass es aber weder Sinn noch System in der Verteilung gibt.
Man nehme exemplarisch den Satz:
„Das (Dienst-)Mädchen, [wir ergänzen im Hinblick auf den weiteren Text bei Twain] das einen schönen Busen hat, schält die Rübe“.
[Zitiert sinngemäß nach H. Hanowell, Reclam 2018]
So ein Quatsch! – soll er gesagt haben.
Vielmehr müsse es heißen:
Die (Dienst-)Mädchen {sie ist ja wohl weiblich, die Gute!},
die eine schöne Busen hat {weiblich ist des Mädchens Busen doch allemal, sonst könnte man von einem Mann ja auch behaupten, er habe eine eindrucksvolle Stoppelbart!},
schält das Rübe {Rübe ist sächlich.}.
Ich versuche, mir vorzustellen, wie Mark Twain reagiert hätte, wäre er Zeuge des egoistischen Durcheinanders bei meiner Fahrt auf der Autobahn gewesen.
Kein Zweifel, filmreife Tobsucht hätte ihn überkommen, und dies zur Freude und Genugtuung seiner Leser in den USA.
(Ich höre deren Tuscheln: ”Havent’we warned, and warned again? Ooh, these German freaks and their damn Autobahn; horrible, shatteringly horrible are those challenges.“)
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