Geschichte

Wie das Deutschlandlied zur Nationalhymne wurde

Vor 100 Jahren, am 11. August 1922, hat der sozialdemokratische Reichspräsident Friedrich Ebert das Deutschlandlied zur ersten offiziellen deutschen Nationalhymne erklärt. Umstritten ist es bis heute – weil viele seine Geschichte nicht kennen.

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Peter W. Ragge
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Die deutsche Nationalmannschaft beim EM-Qualifikationsspiel 2007 in der AOL-Arena Hamburg beim Singen der Nationalhymne. © Thomas Eisenhuth/dpa

Singen sie wirklich voller Überzeugung mit? Bewegen sie nur die Lippen – oder bleiben sie stumm, mit zusammengepressten Lippen? Ob die Startelf der Fußball-Nationalmannschaft, wenn sie bei Turnieren vor dem Anpfiff auf dem Rasen steht, die Nationalhymne mitsingt, wird oft aufmerksam beobachtet.

2012 fordert Gerhard Mayer-Vorfelder, der 2015 verstorbene gebürtige Mannheimer und langjährige Präsident des Deutschen Fußballbundes (DFB), sogar eine Singpflicht. „Klar kann man die Spieler zwingen“, meint er und findet: „Ich kann nicht für die DFB-Auswahl auflaufen und alle Vorteile einstreichen wollen, dann aber so tun, als wäre ich nur ein halber Deutscher.“ Manche Fans stimmen die Hymne dagegen voller Begeisterung an und einige auch die erste Strophe („Deutschland, Deutschland, über alles“), die zwar nicht verboten, aber doch offiziell nicht gebräuchlich ist.

Haydns Kaiserhymne

Die Melodie – die viel älter ist als der Text – stammt gar nicht von einem Deutschen. Komponiert hat sie Joseph Haydn (1723-1809), einer der bekanntesten Vertreter der Wiener Klassik. Bei zwei Besuchen in London, 1790 und 1795, beeindruckt den Österreicher die Wirkung der Herrscherhymne „God Save the King“. Als 1797 französische Truppen auf Wien vorrücken und Lorenz Leopold angesichts der Bedrohung eine Ode an Kaiser Franz II. dichtet („Gott erhalte Franz, den Kaiser“) schreibt Haydn die Melodie dazu. Es wird zur Hymne nicht nur auf das Habsburger Herrscherhaus, sondern auch auf das ganze Land – Staat und Kaiser sind seinerzeit ja eins.

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Peter W. Ragge
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Doch „kein Österreich, kein Preußen mehr, ein einzig Deutschland hoch und hehr“ – das wünscht sich August Heinrich Hofmann von Fallersleben. 1840 schreibt er diese Zeilen in seinen „Unpolitischen Liedern“, die keineswegs so unpolitisch sind. Der 1798 in Fallersleben im Kurfürstentum Braunschweig-Lüneburg als drittes von fünf Kindern eines Kaufmanns und Gastwirts geborene Dichter und Hochschullehrer gilt als einer der Pioniere des Fachs Germanistik. Er fügt seinem häufig vorkommenden Namen Hoffmann erst in der Studentenzeit den Hinweis auf seinen Geburtsort an – er ist kein Adeliger. Sonst schreibt er Kinderlieder und Gedichte – darunter „Alle Vögel sind schon da“, „Ein Männlein steht im Walde“ oder „Morgen kommt der Weihnachtsmann“. Am 26. August 1841, als er auf der Badeinsel Helgoland die Semesterferien verbringt, verfasst der Professor an der Universität Breslau die Verse zu Haydns Melodie und damit das, was später „Lied der Deutschen“ genannt wird.

Zeit der Kleinstaaterei

Ein Deutschland gibt es damals nicht – nur die Sehnsucht danach. Es ist die Zeit der Kleinstaaterei. 35 Fürstentümer und vier freie Städte bilden seit dem Wiener Kongress 1815 den „Deutschen Bund“. Das Königreich Preußen, das Königreich Bayern und das Königreich Hannover zählen ebenso dazu wie das Großherzogtum Baden und das Kurfürstentum Hessen.

Es ist ein lockerer Staatenbund, in dem alle auf ihre Souveränität pochen – also ohne gemeinsamen Kaiser, ohne gemeinsames Parlament, ohne gemeinsame Währung, ja noch nicht einmal mit einheitlichen Maßen und Gewichten. Es ist jene Stimmung, in der Hofmann von Fallersleben „Deutschland, Deutschland über alles, Über alles in der Welt“ schreibt.

„Wenn es stets zu Schutz und Trutze, Brüderlich zusammenhält“ ist seine Hoffnung, keine nationalistische Forderung, sondern ein Appell an die deutschen Partikularstaaten zur inneren Einigung.

„Von der Maas bis an die Memel, Von der Etsch bis an den Belt“ umreißt aus Sicht des Autors keinen geografischen Machtanspruch. Gemeint ist nach Ansicht von Historikern der Fehmarnbelt nördlich der Insel Fehmarn, zum Herzogtum Holstein und damit zum Deutschen Bund gehörend, ebenso wie der Südtiroler Fluss Etsch, als Teil von Österreich zum Deutschen Bund zählend.

Das gilt ebenso für den westlichen Punkt, den der Dichter beschreibt – die Maas, seinerzeit Grenzfluss zu den Niederlanden. Nur Memel, der östliche Punkt des Lieds, zählt zwar wie ganz Ostpreußen in den 1840er Jahren nicht zum Deutschen Bund, aber ist deutsches Sprachgebiet und Zufluchtsort des preußischen Königspaares Friedrich Wilhelm und Luise während der napoleonischen Herrschaft.

Sein Verleger Julius Campe vom Hamburger Verlag Hoffmann und Campe ist, als er den Dichter auf Helgoland besucht, sofort begeistert von den Versen von August Heinrich Hofmann von Fallersleben. Er kauft sie ihm ab, und bereits am 1. September 1841 werden sie als Einzeldruck veröffentlicht. Erstmals aufgeführt wird das Lied im Oktober 1841 vom Männerchor „Hamburger Liedertafel“ anlässlich eines Fackelzugs zu Ehren des Wortführers der badischen Liberalen Karl Theodor Welcker.

Von Preußen entlassen

Auch Hofmann von Fallersleben ist ein Liberaler – und das wird ihm zum Verhängnis. 1843 entlässt ihn der preußische Staat. Ohne Pensionsanspruch verliert er seinen Lehrstuhl und muss das Land verlassen, lebt einige Jahre als fahrender Sänger. „Politischer Wanderdichter der Bewegungsjahre“ wird er von seinem Zeitgenossen, dem Dramatiker Rudolf von Gottschall, im Nachruf genannt. Während der Revolutionsjahre rund um 1848 wird das „Lied der Deutschen“ immer mal wieder angestimmt, aber es setzt sich nicht durch. „Doch mein Deutschland über alles kam und ward – Maculatur“, schreibt der Dichter kurz vor seinem Tod 1874 resigniert.

Zwar entsteht nach dem Deutsch-französischen Krieg 1870/71 endlich ein Deutsches Reich, aber nicht als der liberale Staat, wie ihn sich der Dichter erhofft hatte. Statt dem Deutschlandlied singt man „Heil dir im Siegerkranz“, von 1795 bis 1871 die preußische Volkshymne, und nach Gründung des Kaiserreiches dann Kaiserhymne – aber eine Nationalhymne gibt es nicht.

1890 wird das fast in Vergessenheit geratene Deutschlandlied plötzlich populär – nachdem es am 1. Juli 1890 auf der Insel Helgoland, seinem Entstehungsort, bei der Hissung der Flagge erklingt. An dem Tag übernimmt, im Tausch gegen Sansibar, Deutschland die Insel von den Engländern. Ab da ertönt es immer öfter, wird patriotisches Volkslied. Im Ersten Weltkrieg sollen es deutsche Soldaten im November 1914 vor einem Gefecht in der Nähe des belgischen Ortes Langemarck spontan angestimmt haben, was die Oberste Heeresleitung kräftig für Propaganda an der Heimatfront nutzt.

Nach dem Ersten Weltkrieg verfasst ein unbekannter Dichter gar eine vierte Strophe „Deutschland, Deutschland, über alles, und im Unglück nun erst recht!“. Innenminister Adolf Köster (SPD) ergreift dann die Initiative, dass – der aus Heidelberg stammende – sozialdemokratische Reichspräsident Walter Ebert am dritten Verfassungstag der Weimarer Republik, dem 11. August 1922, das Deutschlandlied zur Hymne erklärt.

„Einigkeit und Recht und Freiheit! Dieser Dreiklang (...) gab in Zeiten innerer Zersplitterung und Unterdrückung der Sehnsucht aller Deutschen Ausdruck; es soll auch jetzt unseren harten Weg zu einer besseren Zukunft begleiten“, so Ebert. Das Lied sei kein „Kampfgesang“ und solle „nicht dienen als Ausdruck nationalistischer Ueberhebung“, sondern „der festliche Ausdruck unserer vaterländischen Gefühle sein,“ so Ebert.

Aber der Weimarer Republik ist keine bessere Zukunft vergönnt. Kaum haben die Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 die Macht übernommen, wird das Deutschlandlied – wie andere nationale Symbole – missbraucht. Erklingen darf es nur zusammen mit dem Kampflied „Die Fahne hoch“ von Horst Wessel, einem Mitglied der SA (Sturmabteilung der Nazis), der 1930 bei Straßenkämpfen mit Kommunisten umkommt und als Nazi-Märtyrer gilt. „Deutschland, Deutschland über alles“ wird von den Nazis ganz anders interpretiert, als es der liberale Dichter einst im Sinn gehabt hat – und das Lied daher zusammen mit anderen Nazi-Titeln nach der Kapitulation vom Alliierten Kontrollrat verboten.

Deutschland ist in vier Besatzungszonen eingeteilt, die sowjetische und die drei westlichen. Hymnen sind untersagt, aber gesungen wird dennoch – ab 1948 schmettern die Menschen der drei westlichen Zonen „Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien“, einen Karnevalshit von Karl Berbuer. Und bei internationalen Sportveranstaltungen behilft man sich mit Beethovens „Freude, schöner Götterfunken“, auch noch lange nach Gründung der Bundesrepublik am 23. Mai 1949.

Das Deutschlandlied ist aber nicht aus den Köpfen zu bekommen. Nur versehentlich ertönt es, als im Mai 1950 in Stockholm die deutsche gegen die schwedische Fußball-Nationalmannschaft antritt – es heißt, man habe zur falschen Schallplatte gegriffen. Bundeskanzler Konrad Adenauer singt es zuvor, im April 1950, bei einer Kundgebung ganz offiziell, indes nur die dritte Strophe: „Einigkeit und Recht und Freiheit!“

Vergeblicher Versuch

Bundespräsident Theodor Heuss ist zunächst dagegen, dieses Lied wieder zur Hymne zu machen. Er lässt Vorschläge sammeln – vier Aktenordner sollen es sein. Heuss selbst beauftragt den mit ihm befreundeten Kirchenliedermacher Rudolf Alexander Schröder, einen Text („Hymne an Deutschland“) zu verfassen, mit Versen wie „Land der Hoffnung, Heimatland, Schling um uns Dein Friedensband“. Der berühmte Komponist Carl Orff, den Heuss um Vertonung bittet, gibt dem Bundespräsidenten aber eine Abfuhr: „Mir persönlich erscheint diese Aufgabe unlösbar“, schreibt er. Daraufhin komponiert Hermann Reutter eine Melodie, und Heuss lässt sie Ende 1950 im Nordwestdeutschen Rundfunk spielen. Sie kommt indes überhaupt nicht an.

Das Grundgesetz schreibt keine Hymne fest, sondern nennt als einziges Staatssymbol die Bundesflagge und ihre Farben. Was es aber als amtliche Festlegung gibt, ist das Bulletin der Bundesregierung Nr. 51/1952 vom 6. Mai 1952 und den darin abgedruckten Briefwechsel zwischen Bundespräsident Heuss und Bundeskanzler Adenauer. Darin bittet Adenauer das Staatsoberhaupt, das Deutschlandlied als Hymne anzuerkennen. „Ich achtete, wenn auch mit Zweifel an dem Gelingen, Ihren Versuch“, eine neue Hymne zu finden, so Adenauer. Er räumt „den Mißbrauch des Deutschland-Liedes durch die Vernichter des alten Deutschland“ ein, bezieht sich indes bei seinem Wunsch auf den Sozialdemokraten Ebert.

Die dritte Strophe

Heuss entgegnet, dass „der tiefe Einschnitt in unserer Volks- und Staatengeschichte einer neuen Symbolgebung bedürftig sei“. Doch er räumt ein, „dass ich mich täuschte“ mit dem Versuch einer neuen Hymne: „Ich habe den Traditionalismus und sein Beharrungsbedürfnis unterschätzt“, gesteht der Bundespräsident. Da er „kein Freund von pathetischen Dramatisierungen“ und „mit mir selber im Reinen bleiben will“, verzichte er auf eine „feierliche Proklamation“, folge aber der Bitte der Bundesregierung „in der Anerkennung des Tatbestandes“.

Adenauer hatte noch in seinem Brief präzisiert: „Bei staatlichen Veranstaltungen soll die dritte Strophe gesungen werden“. Daran knüpft Bundespräsident Richard von Weizsäcker nach der Deutschen Einheit an, als er – nach dem Vorbild Adenauer/Heuss – 1991 auch zum Instrument des Briefwechsels greift. Das Deutschlandlied bilde „als ein Dokument deutscher Geschichte in allen seinen Strophen eine Einheit“, doch seit 1952 habe sich „die dritte Strophe des Liedes als Hymne im Bewusstsein der Bevölkerung fest verankert“ und bewährt, so von Weizsäcker, weil sie „gerade in der Zeit der Teilung den tiefen Wunsch der Deutschen nach Rechtsstaatlichkeit und nach Einheit in Freiheit ausgedrückt“ hätte. Weizsäcker bestimmt daher ausdrücklich die dritte Strophe zur „Nationalhymne für das deutsche Volk“, und Bundeskanzler Helmut Kohl stimmt per Brief namens der Bundesregierung zu.

Redaktion Chefreporter

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