Pierre de Vapeur wirft einen Blick auf den Zeitmesser an seinem linken Arm. Gewürze hat er nun genug gesammelt und im Vitrinen-Rucksack verstaut, der darauf angebrachte kupferne Kanister ist voll mit Energie, und aus dem kleinen Schornstein an seinem Zylinder qualmt es bereits: Alles ist für die Rückkehr in "seine" Zeit vorbereitet. Der Hobbykoch aus dem Landadel ist leidenschaftlicher Reisender - Zeitreisender, um genau zu sein.
Wie ihm geht es vielen Gästen der Steampunk-Convention in Luxemburg - und wie er sind viele eher durch Zufall auf diese Science-Fiction-Szene gestoßen, bevor sie daraus ein hingebungsvolles Hobby oder sogar einen Beruf gemacht haben.
Die Definition des Phänomens Steampunk gestaltet sich dabei jedoch schwierig, da verschiedenste Strömungen - unter anderem literarisch, künstlerisch und kulturell - hineinspielen. Allen gemeinsam ist die Rückbesinnung auf das viktorianische Zeitalter des ausgehenden 19. Jahrhunderts.
Jedoch kommt ein besonderes Merkmal hinzu: Man stellt einen alternativen Verlauf der Geschichte dar, der sich vor allem durch moderne technische Geräte oder sogar eigene Fantasie-Erfindungen im Retro-Look widerspiegelt, die in vielen Fällen - wenn auch nur dem Schein nach - mit Dampf statt mit Strom "betrieben" werden.
Blick durch die "Goggle"
Graaf Horatio Hieronymus van de Dampmolen steht mit seinem Verkaufsstand in der großen alten Fabrikhalle des Industrieparks im Luxemburgischen Fond-de-Gras. Er ist ein hochgewachsener Mann in Militärkostüm aus der Kolonialzeit. Den beigen Tropenhelm ziert eine "Goggle" - ein fester Bestandteil der Steampunk-Outfits.
Diese umgemodelten Schweißerbrillen symbolisieren die "Do-it-yourself" Mentalität der Szene: Was viele als Schrott bezeichnen würden, wird durch die Steampunks gern wiederverwertet und zu Kunstwerken verwandelt - dabei legen sie Wert auf Individualität, und jede Bastelei ergibt ein Unikat. "Bald siehst du in allem, und sei es nur ein Nagel im Baumarkt, eine Erfindung. Man nimmt einfach mal alles mit und wirft nichts mehr weg - sogar meine Freunde zeigen mir mittlerweile alles, bevor es in den Müll wandert", erzählt van de Dampmolen mit einem zufriedenen Grinsen von seinem Alltag.
Seinen Ladentisch zieren unter anderem verschiedenste Modelle von Schweißerbrillen: Mit vorgelagerten Vergrößerungsgläsern, eingebaut in eine Ledermaske oder - wieder typisch für Steampunk - verziert mit zahlreichen Zahnrädern aus Messing. "Das Schöne ist: Von Alltagsgegenständen bis Fantasie-Konstrukten - man kann alles bauen, solange man es erklären kann", findet van de Dampmolen.
In seinem Internetladen fing er an, den Kunden zu jedem verkauften Gegenstand eine kleine Geschichte zu schreiben, bevor er sie sammelte und zu einem Abenteuerroman über seine erfundene Figur Graaf Horatio Hieronymus verarbeitete.
Party im Keller
Ähnlich sieht es bei Pierre de Vapeur aus, wenn man ihn auf seine Zeitmaschine anspricht. Sofort ist er in der Rolle und erklärt die Erfindung in lebhaften Worten. Doch bald wechselt er wieder ins "normale" Gespräch und erzählt von der Convention, die er mit seinem Steampunk-Stammtisch in Freiburg geplant hat. Die Veranstaltung ist eine ganz andere als die in Fond-de-Gras. Nicht im Freien und umgeben von Original-Dampflokomotiven aus vergangenen Zeiten, sondern im dekorierten Kellergewölbe eines Nachtclubs.
Den Hauptunterschied machen aber die Besucher: Während in Luxemburg mehr als tausend Menschen - eine Mischung aus eingefleischten Steampunks aus ganz Europa und einem großen Anteil neugieriger "Normalbürger" - über das Gelände des Industrieparks schlendern, tummeln sich im Freiburger Musikkeller ausschließlich Verkleidete.
Das Programm richtet sich gezielt an Steampunks: Tutursula von Ungefähr verkleidet sich als Putzfrau, um in dieser Rolle Insider-Witze zu bringen. Ihre Tochter sei auf einem komischen Trip - auf einmal wolle sie nicht mehr dünn sein, sondern stopfe sich das Hinterteil aus.
Ein "Dresstease" macht deutlich, was sich hinter dieser Anspielung verbirgt: Tochter Animés zieht ab den Bloomers, also ab Unterwäsche, immer mehr Schichten der Neo-Viktorianischen Damenmode an. Der Po wird durch einen Reifrock besonders hervorgehoben, bevor Unter- und Oberrock, Bluse, Korsett, Kopfbedeckung und natürlich die zahlreichen Steampunk-Accessoires hinzukommen.
Praktische Bastel-Tipps
Bei einem weiteren Programmpunkt gibt Jérôme de Monte Rouge praktische Bastel-Tipps. So haben die Zuschauer gleich wieder neue Ideen, wie sie beispielsweise ihre Goggle in nur wenigen Minuten alt aussehen lassen, oder wie sie eine moderne Computertastatur in eine weiterhin elektrisch voll funktionstüchtige Schreibmaschinentastatur umwandeln. Und dennoch, trotz des regen Austauschs über möglichst leicht anzuwendende Bastel-Methoden und neue Erfindungen, sieht es in der wachsenden Szene keineswegs danach aus, dass die Individualität verlorenginge - ist sie doch der "Motor" für viele der Steampunk-Begeisterten.
Steampunk - Informationen und Erklärungen
- Steampunk begann in 1980ern als literarisches Genre und ist mittlerweile zu einer Subkultur und Kunstrichtung geworden.
- Steampunk ist retro-futuristische Science-Fiction, aufbauend auf Zukunftsvisionen des 19. Jahrhunderts wie in Werken von Jules Verne oder H. G. Wells.
- Es gibt Varianten, in der Regel mit Elementen wie viktorianischem Kleidungsstil und Wertemodell sowie dampf- und zahnradbetriebener Technik im Retro-Look.
- Kontaktaufnahme durch kostenlose Registrierung beim Internet-Forum "Rauchersalon" unter salon.clockworker.de möglich. Für die Szene in der Metropolregion "Steampunkstammtisch Mannheim und Umgebung" eingeben.
- "Was um Himmels willen ist das?", fragte sich Thomas Wenzel, als er von einem Kunden beauftragt wurde, einen Modell-Panzer im Steampunk-Look zu bauen. "Ich habe mir Bilder angeschaut - und seitdem bin ich infiziert." In der Szene ist er jetzt als Graaf Horatio Hieronymus van de Dampmolen bekannt.
- "Ich habe schon immer Science-Fiction gelesen und bin vor ein paar Jahren auf Fotos von Steampunk gestoßen. Der Schritt war dann logisch", sagt Klaus Kurz. "Dabei bin ich vorher nie auf die Idee gekommen, mich zu verkleiden", erinnert sich der maskierte Mann mit den Klingenhänden - ein Gegensatz zu einem Großteil der anderen, die schon immer in vergleichbaren Szenen unterwegs waren. So Philomena Farnsworth: "Viele kommen wie ich aus der Gothic- und Mittelalter-Szene und haben Spaß daran, andere Sachen anzuziehen als im alltäglichen Leben."
- Diese Abgrenzung vom Alltäglichen ist laut Pierre de Vapeur Hintergrund des zweiten Bestandteils der Szenen-Bezeichnung: "Punk kann man auslegen als Individualität, die eigene Freiheit der Darstellung. Und: der normalen Gesellschaft Kontra zu geben - der Einstellung, alles Kaputte wegwerfen und neu kaufen zu müssen, entgegenzuwirken - auch wenn man sich natürlich nicht ausmalen darf, was eine so flächendeckende Benutzung von Dampfkraft für die Umwelt bedeutet hätte."
- Historische Elemente der erfundenen Zeit werden gerne idealisiert. So der Werte-Kodex des viktorianischen Zeitalters. In der Szene spiegelt sich das durch höfliche Umgangsformen wider - "E-Mails und Einträge in Internet-Foren schreiben wir in richtiger Briefform, nicht verkürzt auf sms-Abkürzungen", sagt de Vapeur. Das lässt aber keineswegs auf einen hohen Altersdurchschnitt der Steampunks schließen. Von Jung bis Alt sind dort alle vertreten. nbr
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