Die Seele in der Tasche

Von 
Roland Mischke
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Jean-Claude Kaufmann hat für sein Buch "Privatsache Handtasche" mit 75 Frauen gesprochen. Er ist erstaunt, was sie alles mit sich herumtragen, und entdeckt in der Wahl der Tasche unterschiedliche Lebenseinstellungen.

Wie kommt ein Mann auf die Idee, die Handtaschen von Frauen zu erforschen?

Jean-Claude Kaufmann: Naja, er muss zum Beispiel Soziologe sein und sich hinter dem Vorwand einer wissenschaftlichen Untersuchung verstecken dürfen.

Warum ist es für manche Männer so interessant, zu wissen, was in den Taschen ihrer Frauen steckt?

Kaufmann: Ich glaube nicht, dass ein Mann unbedingt versuchen sollte zu erfahren, was sich alles in der Handtasche seiner Frau befindet. Außer natürlich, die Frau bittet ihn, etwas Bestimmtes aus ihrer Tasche für sie herauszuholen. Ansonsten wäre das doch viel zu intim!

Schnüffeln viele Männer in Frauenhandtaschen?

Kaufmann: Nicht viele, glaube ich. Vielleicht mal gelegentlich, wenn die Tasche gerade offen vor ihrer Nase steht. Auch wenn viele Männer schon gern wüssten, was drin ist, haben sie doch das Gefühl, dass es etwas Verbotenes ist. Sie respektieren die kleinen, sehr persönlichen Geheimnisse einer Frau.

Stimmt der Satz: Wenn du wissen willst, wer die Frau ist, schau dir ihre Handtasche an?

Kaufmann: Ja. Der Tascheninhalt enthüllt eine unglaubliche Menge an Informationen über die Person. Zum Glück ist nicht alles auf den ersten Blick zu entschlüsseln. Wenn zum Beispiel eine kleine Muschel zum Vorschein kommt, möchte man wissen, welche Geschichte an ihr hängt.

Wie war es, mit den Frauen über ihre intime Box zu sprechen?

Kaufmann: Ich habe schon viele Befragungen durchgeführt, aber noch nie ist es mir dabei so leicht gemacht worden. Von Anfang an gab es rege Auskunft und es kam sogar hin und wieder zu einer engen Komplizenschaft.

Haben Ihre Gesprächspartnerinnen vor Ihnen ausgepackt?

Kaufmann: Ich habe mir nie erlaubt, eine Dame zu bitten, vor mir ihre Handtasche zu entleeren. Aber die meisten taten es, von sich aus und meist ohne zu zögern. Sie haben auch das Inventar komplett aufgelistet.

Was sind die häufigsten Gegenstände in der Frauenhandtasche?

Kaufmann: Vier Kategorien von Gegenständen: Schlüssel, Handy, Papiere, Geld. Dazu kommt ein Minimum an Kosmetika und Medikamenten für den Ernstfall.

Ist das durchgehend so?

Kaufmann: Ja, aber das Unentbehrliche kann für die eine Frau etwas ganz anderes sein als für die andere. Eine hat einfach nur einen Lippenstift dabei, für eine andere ist die Tasche geradezu ein Schminkkoffer. Andere Frauen wiederum tragen Dinge mit sich, die nahestehende Menschen brauchen, Kinder, der Mann. Noch andere gehören in die Kategorie "falls". Da wird ein Regenschirm eingepackt, wenn es nach Regen aussieht, oder ein Präservativ, wenn eine Verabredung mit einem Mann ansteht. Und dann gibt es noch viele kleine Dinge in den Taschen, die zu nichts gut sind. Außer für ein bestimmtes Gefühl.

Wissen Sie, was Männern beim Anblick solcher Sammlungen durch den Kopf geht?

Kaufmann: Sie werden schnell leicht ironisch. Das sollten Männer aber nicht tun, sind sie doch immer die Ersten, die auf die Handtaschen ihrer Frauen ausweichen, wenn kein Platz mehr ist in der eigenen Hosentasche. Die meisten Sachen, die einem Paar gemeinsam gehören, tragen meist die Frauen, auch die des Kindes.

Lässt eine Tasche, in der es unordentlich zugeht, Rückschlüsse auf das Chaos ihrer Trägerin zu?

Kaufmann: Manchmal schon. Man kann das nicht verallgemeinern. Einmal, weil immer ein bisschen Durcheinander in einer Tasche ist, es gibt ja ein ständiges Rausnehmen und Reintun. Zum anderen, weil es für viele Frauen nicht einfach ist, in der Tasche Ordnung zu halten, etwa als Mutter mehrerer Kinder. Zudem herrscht in einer kleinen Handtasche meist mehr Ordnung als in einer größeren. Ich glaube auch, dass es für eine Frau ein Ausgleich sein kann, wenn sie die Handtasche aufräumt - ein Ausgleich für andere Dinge im Leben, die durcheinander geraten sind.

Was sagen uns Form und Größe der Handtasche?

Kaufmann: Taschen folgen dem biografischen Zyklus der Trägerin. Sie wächst mit dem ersten Kind, Müttertaschen sind im Durchschnitt immer größer als Mädchentaschen. Bei meinen Untersuchungen jetzt habe ich wieder gemerkt, dass es verrückt ist, was alles in der Tasche einer Mutter drin ist. Es gibt allerdings Frauen, die unbedingt der Leichtigkeit den Vorzug geben. Sie schleppen nur das Nötigste mit, um so mehr Bewegungsfreiheit zu haben. Andere wollen sich beschützt und begleitet fühlen bei allem, was ihnen so den Tag über begegnen kann. Deshalb hängen sie sich auch ein ziemliches Gewicht auf die Schulter. Dahinter stehen unterschiedliche Lebenseinstellungen.

Legen sich viele Frauen Handtaschen nach Bedarf zu? Eine fürs Ausgehen? Eine im Job? Eine andere, die zu einem bestimmten Kleid passt?

Kaufmann: Es gibt Ein-Taschen-Frauen, die ihrem ständigen Taschenkomplizen absolut treu bleiben. Und es gibt Frauen mit vielen Taschenpartnern, die sie unaufhörlich wechseln. Je nachdem, wie sie gerade drauf sind und was sie vorhaben. Sie betreiben großen organisatorischen Aufwand, um den Inhalt umzuschichten. Auch darin sehe ich zwei Philosophien, sich eine eigene Identität zuzulegen.

Von einer Lolo schreiben Sie: "Sie bevorzugt die Einfachheit einer einzigen Tasche und versucht dennoch, die vielfältigen Facetten ihrer Persönlichkeit voll auszuleben." Erklären Sie einem simplen Mann diesen Satz?

Kaufmann: Eine Handtasche einer anderen vorzuziehen, bedeutet immer, sich auf eine andere Art auszuleben. An einem Morgen ist Lolo guter Laune und will diese Stimmung füttern, noch strahlender machen. Also sucht sie sich eine fröhliche, farbige und total indiskrete Handtasche aus. Den ganzen Tag über fühlt sie sich verpflichtet, diesem lebensfrohen Bild von sich selbst zu entsprechen. An einem anderen Morgen ist sie eher müde und nervös, dann wählt sie eine diskretere Tasche, die ihr nicht so viel abverlangt.

Anderen Frauen gibt die eigene Tasche "Vertrauen und Sicherheit". Das geht bis zur "geheimen Botschaft" der Tasche, bis zur Erinnerung bei ihrem Anblick, "wer ich bin". Das empfinden Männer als krass!

Kaufmann: Und das ist gut so! Männer müssen das wunderbare und subtile Universum einer Frauenhandtasche doch gar nicht verstehen.

Ist das der Grund, warum manche Frauen die Tasche immer auf ihren Knien halten, im Restaurant zwischen den Füßen, bei Freunden auf der Couch neben sich?

Kaufmann: Die Tasche ist ein Teil ihres Selbst, wie ihr Herz. Es gehört zum Wertvollsten. Es zu verlieren wäre ein Drama. Denn es bietet Schutz, Sicherheit.

Andere wieder stellen die Handtasche irgendwo ab und vergessen sie.

Kaufmann: Die Tasche ist eine widersprüchliche Welt. Sie kann der allerwertvollste Gegenstand sein und trotzdem vergessen werden. Jede Frau hat große Angst, dass ihr daraus etwas gestohlen werden könnte, aber viele lassen sie trotzdem in der Metro offen. Jede Frau weiß, dass an ihrer Tasche ein Haufen Bakterien dranhängt und stellt sie dennoch auf den Küchentisch.

Welche Frauen verzichten auf eine Handtasche?

Kaufmann: Das sind überwiegend junge Frauen, die von der Bewegungsfreiheit der Männer träumen.

Die Handtasche ist ein "Teil der Weiblichkeit" ihrer Besitzerin, erfahren wir. Geht das wirklich so weit?

Kaufmann: Ja, das fängt schon ganz früh an, wenn kleine Mädchen Mamas Handtasche entdecken und mit ihr Formen des Weiblichseins durchspielen.

Öffnen Frauen manchmal ihre Handtasche, um sich abzulenken oder in eine angenehme Stimmung zu versetzen, ein Gefühl wiederzubeleben?

Kaufmann: Die vielen kleinen Sachen verweisen auch auf viele angenehme Erinnerungen. Das ist der geheimste und intimste Teil einer Tasche.

Warum lesen diese Frauen in ihrem Notizheftchen, streichen eine zerknüllte Restaurantquittung glatt, haben eine vielbetastete Postkarte dabei oder ein aus einer Zeitung herausgerissenes Gedicht?

Kaufmann: Manchmal ist das einfach eine Kuscheltierfunktion, die beruhigt. Das Taktile kann entspannend sein. Oft hat es mit Erinnerungen zu tun, der Rückkehr einst erlebter Szenen. Das ist eine Art Reisen in der eigenen Geschichte.

Ist Magie verbunden mit den Gegenständen in der Handtasche?

Kaufmann: Das ist das, was ich am allerinteressantesten finde und was Frauen und Männer unterscheidet. Die Tasche ist eine eigene Welt, gefüllt mit Liebe und Zuneigung. Wenn die mitgetragenen Dinge nach Jahren nicht mehr nur ein paar Gramm, sondern mehrere Kilos sind, werden sie trotzdem nicht hergegeben.

Warum gibt es so viele Handtaschenbesitzerinnen, die, wenn ihr Handy schrillt, fast in Panik geraten und mit beiden Händen wühlend in die Tiefen dieses Fasses ohne Boden tauchen? Moderne Taschen haben doch Handyfächer.

Kaufmann: Der Stress macht die Methode des Suchens noch weniger effizient, aber es bleibt trotzdem angenehm, das Handy ohne Umstände einfach in die Tasche fallen zu lassen anstatt es in ein Fach zu schieben.

Welche Männer tragen eine Herrenhandtasche?

Kaufmann: Vor allem Jüngere, die mehr Geräte dabei haben.

Was haben Sie denn für eine Tasche?

Kaufmann: Sie ist getarnt. Sie sieht außen aus wie eine Mappe, aber drin habe ich alles, was ich so brauche, sogar Nähzeug.

Jean-Claude Kaufmann

Jean-Claude Kaufmann wurde am 12. April 1948 in Rennes, Frankreich, geboren.

Der Soziologe ist am Centre national de la recherche scientifique (CNRS) der Pariser Sorbonne tätig.

Kaufmann beschäftigt sich seit Jahren mit Themen rund um die Paarbeziehung und den Alltag, etwa um den Umgang mit Wäsche, die Logik der Haushaltstätigkeit oder das Single-Leben.

Er hat unter anderem das Buch "Privatsache Handtasche" (UVK Verlag, Konstanz 2012, 198 Seiten, 19,99 Euro) geschrieben.

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