Ihren ersten ausrangierten Doppeldecker-Bus hatte Rosmarie Köckenberger, genannt Marie, über eine Kleinanzeige gekauft. "Da war ich noch naiv", sagt sie, denn es stellte sich schnell heraus, das war kein Schnäppchen. "Marie, der ist kaputt" sagte ihr ein Sammler, an den sie sich hilfesuchend gewandt hatte. Reparatur und Umrüstung hätten ein Vermögen gekostet. Doch der Sammler trieb einen anderen Doppeldecker in der Nähe von Köln auf. Marie fuhr dort hin und ließ ihn von einem Busfahrer nach Berlin chauffieren. Alles in allem gingen dafür ihre sämtlichen Ersparnisse drauf. Aber sie konnte sich ihren Traum erfüllen: ein Kiosk in einem Bus.
Da steht er nun, der weiße Doppeldecker, weithin sichtbar, an einer vielbefahrenen Straße, die mitten durch das Herz von Kreuzberg führt. Baujahr 1965 soll er sein, und angeblich fuhr er einst bis 1978 durch das vornehme Zehlendorf. In seinem zweiten Leben als Kiosk erlebt er die typische Kreuzberger Publikumsmischung aus Eingeborenen und Zugezogenen, aus Berlinern, Deutschen, türkischen und arabischen Einwanderern, aus verkrachten Existenzen, Alt-Alternativen und Neo-Kreativen.
Plaudern mit Marie
Der Bus ist nicht nur Kiosk, sondern auch Nachbarschaftstreff. Genau das ist es, was Marie Köckenberger sich gewünscht hatte, ein Kiosk, der attraktiv ist für alle Generationen und alle sozialen Schichten. "Dass das hier so gut funktioniert" sagt sie "das macht mich glücklich."
Im Untergeschoss des Busses gibt es auf der einen Seite die Ladentheke mit Kaffee- und Kuchenbar. Neben der Ladentheke steht "Helga", eine Bank, auf der meistens irgendjemand sitzt, um ein bisschen mit Marie zu plaudern.
Auf der anderen Seite gibt es in vollgestopften Regalen "die Waren des täglichen Bedarfs": Batterien, Bier, Chips, Cornflakes, Eis, Geburtstagskerzen, Gummibärchen, Hundefutter, Kaba, Konfetti, Kondome, Lakritze, Lollis, Marmelade, Milchschnitte, Prosecco, Rubbeltattoos, Schleckmuscheln, Schnaps, Seifenblasen, Tütensuppen, Überraschungseier, Wunderkerzen, Zahnpasta, Zeitungen, Zigaretten und so weiter.
Auf dem Oberdeck verwandelt sich der Kiosk in ein Café, in dem man auch Karten, Schach, Memory oder Backgammon spielen oder einfach seinen Kaffee trinken kann.
Köckenberger ist 30 Jahre alt, Sozialpädagogin, hat sich in verschiedenen Berufen und Metiers ausprobiert und jetzt mit ihrem Kiosk noch viel vor. Sie hat nicht nur den Bus gekauft, sie hat auch investiert in Kühlschränke, Heizung und eine professionelle Kaffeemaschine. Reich wird sie mit ihrem Kiosk nicht werden, aber sie will davon leben können.
Marie ist typisch für ihre Generation und deren Gründungsenthusiasmus, der in der kreativen Atmosphäre Berlins besonders viele Blüten treibt. Mit großem Einsatz, mit großer Unbefangenheit und oft mit großer Risikobereitschaft werden alte Gewerbe wieder belebt und jede Menge neuer erfunden. Doch Marie will nicht nur hip sein, sie will auch Brücken bauen, zum Beispiel zur benachbarten Omar-Ibn-Al-Khattab-Moschee. Als sie im Dezember mit ihrem Bus an den jetzigen Standort kam, hat sie sich mit dem Vereinsvorsitzenden der Moschee bekanntgemacht, für offene Türen und gute Nachbarschaft geworben. Moscheebesucher brachten ihr daraufhin zur Eröffnung frisches Gebäck vorbei.
Noch wichtiger ist, dass seitdem etliche Kinder aus der Moschee zu ihr in den Kiosk kommen. Sie können auf dem Oberdeck zusammensitzen, fernsehen oder Super Nintendo spielen. Auch türkische und arabische Schulkinder kommen in den Bus, und Marie hilft gelegentlich bei den Hausaufgaben. Oder sie kauft ein paar Bücher, um damit vielleicht die Lust aufs Lesen zu wecken. Dass die Kinder kommen, ist ihr eine Herzensangelegenheit.
Der Kiosk heißt KJOSK, weil Marie ein Buch der Berliner Soziologin Elisabeth Naumann gelesen hat ("Kiosk. Entdeckung an einem alltäglichen Ort"). Danach war der altägyptische kjosk, der der Verehrung von Göttern und Pharaonen diente, der historische Vorläufer.
Neue Projekte
Von dort bis zur Blütezeit der Kioske in Deutschland in den 50er Jahren war es ein weiter Weg. Später wurden sie Opfer wirtschaftlicher Veränderungen und städtebaulichen Kahlschlags. Erst in den vergangenen Jahren wird wieder erkannt, wie kostbar Kioske als nachbarschaftliche Anlaufstellen sein können.
Vielleicht ist das auch einer der Gründe, warum Marie mit ihrem Kiosk vom Bezirksamt wohlwollende unterstützt wird. Denn natürlich braucht sie eine Genehmigung, wenn sie ihren riesigen Doppeldecker irgendwo hinstellen will.
Auf Nachbarschaft setzt Marie Köckenberger so weit wie möglich auch bei ihren Lieferanten: die Kreuzberger Brezel Bar liefert die Brezeln, die Kreuzberger Bonbonmacherei fertigt Original Berliner Bonbons, der Honig kommt von Kristian Kaisers Berliner Bienen und die Würste liefert Bauer Mette, einer der letzten Berliner Bauern, der am Stadtrand Rinder, Schweine, Pferde, Ziegen und Schafe hält.
Im Juni muss sie mit ihrem Bus wieder umziehen. Ihr erster Platz war eine Brache, nicht weit entfernt vom jetzigen Standort. Dieser ist, wie bei einem Zirkus, das Winterquartier. Ein neuer Standort ist bereits angepeilt, preisgeben mag sie ihn noch nicht. Er wird in der Nähe sein, in Kreuzberg natürlich, ein anderer Stadtteil kommt dafür nicht infrage.
Nach dem Umzug will Marie Köckenberger sich neuen Projekten zuwenden. Sie will weiterhin Kaffee kochen, sagt sie, und all das verkaufen, was einen gut sortierten Kiosk ausmacht. Zugleich will sie sich Partner für neue nachbarschaftliche und kulturelle Aktivitäten suchen, die auch im Bus stattfinden können. Zum Beispiel "Das Klingende Museum", das mit einem Klingenden Mobil in Kitas und Schulen unterwegs ist, um Kindern Musik und Musikinstrumente näher zu bringen.
Oder Partner für türkische und deutsche Sprachkurse. Oder eine Kooperation mit "Rütli Wear", dem Shirt-Label von Deutschlands bekanntester Schule. Jedenfalls Partner für noch mehr spannendes Miteinander auf kleinem Raum.
KJOSK
Der KJOSK in einem ausrangierten Original BVG-Doppeldecker-Bus aus dem Jahr 1965 steht am Straßenrand der Skalitzer Straße in Kreuzberg und ist eine Mischung aus skurrilem Tante-Emma-Laden und Nachbarschaftstreff.
Die Besitzerin Rosmarie "Marie" Köckenberger verkauft dort Waren des täglichen Bedarfs, oder anders ausgedrückt: "alles, was lecker und schön ist".
Geöffnet ist der Kjosk jeden Tag von 11 Uhr vormittags bis zwei Uhr nachts. Auf dem Oberdeck des Busses gibt es ein Café mit Sitzbänken. Dort kann man in Ruhe essen und trinken, die Aussicht genießen und jede Menge Spiele spielen.
URL dieses Artikels:
https://www.schwetzinger-zeitung.de/leben/erleben_artikel,-lifestyle-doppelt-gemoppelt-_arid,343997.html