Zettelwirtschaft

Von 
Karin Rieppel
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Joab Nist ist vor allem davon fasziniert, wie die Dinge in Berlin gesagt werden. (Bilder: Rieppel)

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Wir wohnen hier! Wer einbricht, muss mit Faustkampf rechnen! ATTENZIONE" (Zettel in Neukölln) oder "Pflanzen klauen macht hässlich und versaut das Karma"(Zettel in Kreuzberg) - Joab Nist war vor allem davon fasziniert, wie die Dinge in Berlin gesagt werden: "So kannte ich das aus München oder anderen Städten nicht. Die Fülle, die Kreativität und die Themenvielfalt, das ist einzigartig."

Er selbst kam 2003 aus München nach Berlin, war, wie so viele junge Leute, von der Stadt fasziniert, durchstreifte sie und saugte alles in sich auf. Er machte sich ein Bild von der Stadt, und dieses Bild, so sagt er, habe er in den Zetteln wiedergefunden. "Freundliches Mädchen sucht Lebenssinn. Du auch? - Den Lebenssinn habe ich schon gefunden, suche aber ein freundliches Mädchen" (Zettel in einer Pizzeria) oder "Für den Dieb eines Laptops: Es gibt noch eine Laptop-Tasche und eine passende Docking-Station, die ich nicht mehr benötige. Bitte im Büro melden!" (Zettel in einem Fenster in Neukölln). So tickt Berlin.

Einblick in Seele der Menschen

Natürlich, auch hier gibt es wie in anderen Städten die Zettel, mit denen Wohnungen oder Gegenstände gesucht, Yoga- oder Sprachkurse angeboten werden. Doch in Berlin, sagt Joab Nist, werden auf den Zetteln viel stärker als anderswo auch Wünsche, Sehnsüchte und das - nicht immer störungsfreie - Zusammenleben der Menschen kommuniziert. Manche Zettel geben Einblick in die Seele eines Menschen. Viele erzählen vom Lebensgefühl dieses speziellen Schlags unangepasster und idealistischer junger Leute, die sich in den vergangenen Jahren in Berlin angesammelt haben.

"HALLO, Bin noch ungefähr acht Tage in Berlin und SUCHE einen Mercedes-Bus zum Drinwohnen, Rumreisen . . ." (Zettel im Görlitzer Park in Kreuzberg). Aber nicht nur. Auf den Zetteln und über die Zettel kommuniziert auch der typische Berliner Mix aus Alteingesessenen und Zugezogenen ("Heul Nich Du Schwabe"), aus Glücklichen und Verzweifelten ("Ihr habt die ganze Stadt verkauft"), aus Träumern und Wahnsinnigen ("AUF DASS DER IDEALISMUS UNS AUF SEINEN FLÜGELN TRAGE").

Licht- und Ampelmasten, Stromkästen, Bäume, Hauseingänge, U- und S-Bahnhöfe, Copyshops und Cafés - in manchen Gegenden wird der Platz knapp, ist die Stadt mit Zettel-Botschaften regelrecht gepflastert. Eine urbane, analoge Alltagskommunikation, die Blüten treibt, trotz Facebook und Twitter. So ein Zettel an der richtigen Stelle, das geht schnell, das kostet nichts und ist noch dazu viel zielgerichteter.

Es ist, als würde man der Anonymität der Großstadt ein Schnippchen schlagen, ohne die eigene Identität preiszugeben. Dazu kommt, dass die Zettel an den meisten Orten auch hängenbleiben, niemand sie sofort herunterreißt. Und was zur Zustimmung oder zum Widerspruch reizt, wird auch manchmal direkt vor Ort kommentiert. Man macht sich bemerkbar in der Stadt.

Im Herbst 2010 hat Joab Nist den Blog NOTES OF BERLIN als Gemeinschaftsblog angelegt, weil er sich sagte, dass er nicht alles allein finden kann. Dort kann jeder mitmachen und seine Fundstücke einreichen. Nist wählt aus und entscheidet, welche NOTE OF BERLIN veröffentlicht wird. Seine Auswahlkriterien: Es muss einen Nerv treffen, charakteristisch sein, Lustigkeit ist nicht das oberste Gebot. Es darf nicht kommerziell sein und keine Werbebotschaft. Inzwischen, so berichtet er, machen sich Verlage, Galerien, Restaurants und Dating-Plattformen diese Art der direkten Kommunikation zu eigen und versuchen, in der Zettel-Wirtschaft mitzumischen.

Und wenn er das Gefühl hat, dass man ihm einen Fake unterjubeln will, lehnt er die Note ab. Derzeit bekommt er fünf bis zehn Mails pro Tag und so sehr er sich über den Erfolg von NOTES OF BERLIN freut, kann er manchmal den Ansturm kaum noch bewältigen. Am Anfang wurde der Blog fast ausschließlich von Berlinern gelesen. Inzwischen, das weiß er durch entsprechende Tools, von Usern im gesamten deutschsprachigen Raum. Und weil das Interesse auch außerhalb von Berlin so groß ist, ist die Idee entstanden, einen zweiten Blog anzulegen, NOTES OF GERMANY, zunächst inklusive Österreich und Schweiz.

Nists Traum war von Anfang an, ein Buch zu machen. Den konnte er sich jetzt erfüllen, weil der Blog so schnell gewachsen ist. Im Buch sind die Zettel-Botschaften zum Teil nach Themen sortiert, Einbrecher zum Beispiel, Exkremente, Autos oder Fahrraddiebstahl. Und es gibt mehrere "Die Geschichte dahinter". In diesen Fällen hat Nist die Zettel-Botschafter ausfindig gemacht und sich ihre Geschichte angehört.

Zum Beispiel die der 25-jährigen Jutta, die im Prenzlauer Berg nach ihrer Katze suchte: "3-beinige Katze vermisst! schwarz-weiß. Finderlohn! (plus Telefonnummer)". Jutta hatte die dreibeinige Katze namens Gertrud von einer Familie aus der Nähe von Karlsruhe übernommen, die das Tier aus der Türkei mitgebracht hatte. Mit Katze und Freund zog Jutta nach Berlin. Dort ging mit der gemieteten Wohnung im Prenzlauer Berg zunächst alles schief, sie mussten sich als Untermieter zufriedengeben. Schon als sie das erste Mal die Wohnung verlassen haben, verschwand die Katze. Sie suchten stundenlang, im Haus und auf der vielbefahrenen Danziger Straße, brachten schließlich den Zettel an.

Zwar gab es ein Happy End und Gertrud stand plötzlich vor der Wohnungstür. Doch Jutta und ihr Freund hatten die Vermieterin im Verdacht, dass sie die Katze ausgesetzt hat. Sie zogen noch in derselben Nacht aus.

In den meisten Fällen aber wissen weder Joab Nist noch die Leser, wer die Menschen sind, die auf den Straßen ihre Nachrichten hinterlassen haben. Und vielleicht will man das auch nicht in jedem Fall wissen. Man liest eine Nachricht, überlegt, wer so etwas geschrieben haben könnte, hat kein komplettes Bild von den Geschehnissen oder von der Person. "Aber", sagt Joab Nist, "es regt auf alle Fälle die Fantasie an."

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