Odonchimeg ist in einer Jurte aufgewachsen. Ihr Wecker waren das Flattern des Zeltstoffs im Wind, das Schnauben der Pferde direkt am Ohr oder das rupfende Geräusch der Yaks, die so fest an den Grasbüscheln zerrten, als wollten sie ihr den Boden unterm Bett wegziehen. Wenn sie die Augen aufschlug, konnte sie durch die Dachöffnung die Vögel am Himmel beobachten.
„Sobald man morgens über die Schwelle tritt und die klare Luft einatmet, fühlt man sich eins mit der unendlichen Weite der Natur.“ So beschreibt die Mongolin mit den breiten Wangen, den schmalen Augen und den tiefschwarzen Haaren ihre Kindheitserinnerung an das Nomadenleben in einem der am dünnsten besiedelten Länder der Erde.
Einen Familiennamen hat Odonchimeg nicht, denn in dem ostasiatischen Binnenstaat zwischen Russland und China gibt es keine Nachnamen. „Man könnte den Clannamen oder den Vornamen des Vaters als Nachnamen nehmen“, sinniert Odonchimeg, „aber üblich ist das nicht.“ Drei Generationen wohnen in einer Jurte meist auf engstem Raum zusammen. Das Leben der Großeltern, Eltern und Kinder spielt sich auf wenigen Quadratmetern ab, und doch ist die Jurte für sie Sinnbild grenzenloser Freiheit. Denn das Wohnzelt kann jederzeit zusammengefaltet, auf zwei Kamele geladen und in nur einer Stunde an jedem anderen Ort wiederaufgebaut werden. Heimat ist nicht die Umgebung, sondern die Jurte, die überall mit hinzieht.
Bis zu ihrem 12. Lebensjahr betrug Odonchimegs Lebensradius im Inneren der Jurte exakt drei Meter. Das kreisrunde Familienzelt war über ein einfaches Holzgerüst aus fünf Scherengittern gespannt. Diese waren durch Stangen mit dem Dachkranz verbunden und ließen sich je nach Platzbedarf zusammenschieben oder auseinanderziehen. Darüber hingen eine dicke Filzmatte, eine wasserfeste Plane und ein weißer Baumwollüberzug. Da die Stoffschichten atmen, halten sie im Sommer die Hitze ab und sorgen im Winter für angenehme Wärme. Fenster gibt es keine; die einzige Tür ist meist aus Holz und kunstvoll bemalt.
Seit dem 12. Jahrhundert ist die Jurte in der Mongolei, aber auch in Kirgisistan und Kasachstan eine weit verbreitete Wohnform. „Die Jurte stellt eine der großartigsten und dauerhaftesten architektonischen Bauten in der Wohnkultur der Menschheit dar“, schrieb der kirgisische Schriftsteller Tschingis Aitmatow. So unscheinbar die Jurten von außen wirken, der Schritt ins Innere lässt Besucher oft staunen. Wie in einem Zirkuszelt laufen Dachstreben in einer Kuppel zusammen, und genauso bunt sind auch die Wände.
Truhe als Schrank
Alte Wandteppiche und moderne Stoffe in knalligen Farben sind mit Wandtellern, Landschaftsgemälden und religiösen Tafeln behängt. Wie auf dem Jahrmarkt baumelt ein Sammelsurium persönlicher Habseligkeiten von der Decke: Stofftiere, Schals, Flaggen, Plastikornamente und Wollquasten. Der Boden ist mit Holzbrettern, Linoleum und Teppichen ausgelegt. Fast immer stehen rechts und links die Betten, die tagsüber als Sofas genutzt werden. Links halten sich traditionell die Frauen auf, rechts die Männer. Gegenüber der Tür prangen große Holztruhen mit dicken Schlössern und Familienfotos. „Eine dieser Kommoden ist der Kleiderschrank, in der anderen werden Wertsachen aufbewahrt“, sagt Odonchimeg. „Es gibt formgerechte Möbel, die der Größe und Rundung der Jurten angepasst sind.“
Herzstück Ofen
Zentrales Objekt im Raum ist ein Ofen mit langem Abzugsrohr, das durchs Dach nach außen führt. Die Feuerstelle ist Heizung und Herd in einem. Gegessen wird an einem niedrigen Tisch. Auf dem Land ernähren sich die Menschen vorwiegend von der Milch ihrer Schafe, Ziegen und Rinder. Neben Joghurt und Sahne wird daraus auch Milchschnaps hergestellt. Da es keine Kühlschränke gibt, werden Käse und Quark auf dem Jurtendach getrocknet und in Stücke geschnitten.
Getrocknetes Fleisch gibt es hauptsächlich im Winter. „Ein typisches Festtagsgericht ist Horhog“, erzählt Odonchimeg. „Dazu werden Hammelfleischstücke abwechselnd mit glühenden Steinen in eine Milchkanne gegeben. Nach einer halben Stunde auf dem Feuer wird die Kanne gut durchgeschüttelt, und das Fleisch ist gar. Die Milchkanne nehmen wir in Ermangelung eines Dampfkochtopfs.“
Dennoch hat das moderne Leben mittlerweile auch abgelegene Teile der Mongolei erreicht. Die traditionellen Hüte, Mäntel und Stiefel werden immer öfter gegen Baseballmützen, Jeans und Turnschuhe eingetauscht. Statt mit Lasttieren wie Yaks und Kamelen ziehen viele Mongolen inzwischen mit Pick-up-Trucks durch die Steppe. Aus Nomadentraditionen sind Touristenattraktionen geworden. Auch wenn kaum mehr als 5000 Reisende pro Jahr den Weg in die Mongolei finden, bieten Clans dort Kamelreiten, Bogenschießen und Showkämpfe für ein paar Tugrik an. Andere verkaufen Souvenirs in Shop-Jurten oder bauen vor ihren Jurten Marktstände auf. Da die meisten Touristen mit dem Zug, insbesondere mit der Transsibirischen Eisenbahn, kommen, sind die Siedlungsplätze entlang der Gleise sehr beliebt.
„Wo es Bahngleise oder Straßen gibt, da ist Leben“, bestätigt Odonchimeg. Sie selbst arbeitet als Fremdenführerin und vermittelt Touristen Einblicke in die Jurten. Im Camp Buuveit im Nationalpark Gorkhi Terelj können Besucher Urlaub in einer Jurte buchen. In den Städten gibt es Jurtenhotels mit Mehrbettzimmern und Restaurant-Jurten. In der Hauptstadt Ulan-Bator stehen die schmuddeligen Jurten etwas verloren zwischen den modernen Hochhäusern. Am Stadtrand haben sich Jurten-Slums gebildet, die mit ihren Kohleöfen die Luft verpesten.
„Die Regierung will die Jurtensiedlungen abschaffen“, seufzt Odonchimeg. Sie wohnt nicht weit in einem Häuserblock. „Als ich zwölf Jahre alt war, wurde meinem Vater von seiner Firma eine Wohnung angeboten. Da beschlossen meine Eltern, ihre Jurte zu verlassen und in die Stadt zu ziehen.“ Nur ihre große Schwester lebt weiterhin als Viehzüchterin in einer Jurte in den Bergen. „Wenn ich sie besuche, ist das wie Urlaub auf dem Bauernhof“, schwärmt Odonchimeg. „Das Leben in der Jurte ist viel schöner, aber eine Wohnung ist nun mal komfortabler.“
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