Ritsch, ratsch, auf und zu

Jeder kennt ihn: den Reißverschluss. Manch ein Tüftler verzweifelte über dem Versuch, Bänder und Knöpfe zu ersetzen. Schließlich gelang der Durchbruch. Seit 125 Jahren öffnen und schließen sich die Zähne des kleinen Helfers.

Von 
Thomas Olivier
Lesedauer: 
Der Schweizer Reißverschluss „riri“: Die Bezeichnung leitet sich ab von den Wörtern Rille und Rippe. Firmengründer Martin Othmar Winterhalter kaufte 1923 das US-Patent. Er verdiente damit Millionen. © Sabine Braun

Für Kurt Tucholsky blieb das gezackte Wunderwerk der Ingenieurs-Technik zeitlebens ein Mysterium: „Kein Mensch kann sich erklären, warum der Reißverschluss funktioniert!“ tönte das Lästermaul unter seinem Pseudonym Peter Panter 1928 in der „Vossischen Zeitung“. „Ich weiß es nicht, du weißt es nicht, wir alle wissen es nicht.“

Auch der frühere Bundespräsident Theodor Heuss gab sich ahnungslos: Als er in den 1950er Jahren die Ausstellung „Bergbau“ im Deutschen Museum in München eröffnete, brummte der Schwabe mit der markanten Stimme den Kuratoren ins Ohr: „Meine Herren, das interessiert mich hier eigentlich alles gar nicht.“ Aber wie ein Reißverschluss funktioniert, das wüsste er schon gerne.

Er klemmt, wenn er nicht klemmen soll. Er öffnet sich, wenn er sich nicht öffnen soll. Jeans rutschen, Anoraks flattern im Wind, durch Hosentüren zieht es. Schlimmer noch: Mehr als 81 000 männliche Patienten landeten zwischen 2002 und 2010 in den USA wegen einer Reißverschluss-Verletzung an ihrem besten Stück in der Notaufnahme. „Zwei Drittel davon waren Kinder“, so Forscher der University of California. „Einfach besser aufpassen!“ resümierten daraufhin Urologen. Deutschen Medizinern war das schmerzhafte Problem 1999 sogar ein Fachbuch wert: „Reißverschlussverletzungen – Tipps und Tricks für den Urologen“.

Schräg, amüsant und manchmal auch tragisch sind Überlieferungen, die sich um den Ritsch-Ratsch-Apparat ranken. Das geniale Ding hat viele Väter: Ein gutes Dutzend Erfinder hat sich jahrzehntelang an seiner Technik abgearbeitet. Wann endlich vermochte ein flinkerer Ersatz die umständlichen Schnürsenkel, Bänder, Knöpfe oder Knebel ersetzen? Manch Tüftler verzweifelte darüber. Einer starb verkannt und bettelarm. Ein anderer wurde am Lebensende sogar für geisteskrank erklärt.

Aber der Reihe nach: Die Geburt des Reißverschlusses beginnt ganz unten – an den Füßen. In hoch geknöpften Schuhen stolzieren die Bürger im 19. Jahrhundert über das Pflaster. Und es braucht viel Geschicklichkeit, die Galoschen mit Stiefelknöpfern zu bändigen. Ob Hosen, Jacken, Kleider, Korsetts – alles wird umständlich und zeitraubend zugeknöpft oder verhakt.

Später Ruhm

Das will ein Amerikaner ändern: Vor etwa 170 Jahren lebt in Boston ein sonderbarer Kauz, der, so die Überlieferung, „trotz seines Alters noch läppisch und kindisch und vor allem ein Feind jedweder anstrengenden Arbeit war“: Elias Howe, eine „Stadtmerkwürdigkeit“. Nächtelang hockt der Grübler in seinem Dachstübchen und weiß oft nicht, wie er seine Familie ernähren soll. 1851 meldet der dreifache Familienvater ein Patent für seinen „automatischen, ununterbrochenen Kleiderverschluss“ an. Howes Idee ähnelt einem Kordelzug, der durch eine Reihe von Klämmerchen läuft. Ein Konstrukt, das es nie zur Marktreife bringt. Der späte Ruhm kommt dennoch: Als Howe 1867 nur 48-jährig in Brooklyn stirbt, hinterlässt der inzwischen zum Fabrikant aufgestiegene Kauz von einst ein großes Vermögen: Howe ist der Erfinder der Nähmaschine.

Erst der Geistesblitz eines ehemaligen Leutnants bei der US-Kavallerie führt zur Entwicklung des ersten echten Reißverschlusses: Um einem an Arthritis leidenden Freund das Schließen der Stiefel zu erleichtern, tüftelt Whitcomb Leonard Judson, ein amerikanischer Maschinenbau-Ingenieur und Handlungsreisender für Kornwaagen, an einer revolutionären Konstruktion: Am 29. August 1893 meldet er seinen auf Haken und Ösen basierenden Verschluss mit dem klangvollen Namen „Klemmöffner und Klemmschließer für Schuhe“ zum Patent an. Noch im selben Jahr präsentiert Judson auf der Weltausstellung in Chicago seine bahnbrechende Idee. Doch die Präsentation gerät zum Desaster: Die 21 Millionen Besucher der gigantischen Leistungsschau interessieren sich viel mehr für das weltweit erste elektrische Riesenrad und Amerikas erste Bauchtänzerin „Little Egypt“ als für das winzige Textil.

Judson ist untröstlich. Sein vollmundiges Werbe-Versprechen „Ein Zug und fertig!“ kann das kleine Wunderwerk nie einlösen: Allzu oft klemmt der Verschluss oder er öffnet sich bei den unpassendsten Gelegenheiten. Den Siegeszug seiner Erfindung hat der Ur-Vater des Reißverschlusses nicht mehr erlebt. Judson stirbt 1909 verarmt in dem traurigen Glauben, dass seine Erfindung nie einen Nutzen haben werde.

Ein Trugschluss. Einem ehemaligen Maschinenbau-Studenten vom Rheinischen Technikum in Bingen gelingt acht Jahre später die entscheidende Weiterentwicklung von Judsons Lebenswerk: Mit dem „Seperable Fastener“ertüftelt 1917 der gebürtige Schwede Otto Frederik Gideon Sundbäck den ersten serienreifen Reißverschluss. Der Ingenieur, der 1905 in die USA emigriert war, ersetzt die Haken und Ösen bisheriger Modelle durch ineinandergreifende Klemmbäckchen und Kügelchen. Das US-Militär ist begeistert: Noch im selben Jahr werden die wetterfesten Uniformen der Navy mit Sundbäcks Reißverschlüssen ausgestattet, ebenso die Gummistiefel für die kämpfende Truppe in Europa zum Ende des Ersten Weltkrieges. Zur zivilen Anwendung kommt es erst später.

Eine Revolution

1923 bietet Sundbäck seine Erfindung in der Schweiz feil. Die Stickereibarone in St. Gallen amüsieren sich über den Amerikaner. Sie schicken ihn zum Bruchbandhändler Martin Othmar Winterhalter, den sie für ebenso durchgeknallt halten. Winterhalter, der sein Jura-Studium mit der Produktion von Bändern zur Heilung von Bauchhöhlen-Brüchen finanziert hatte, erkennt den unschätzbaren Wert dieser visionären Erfindung sofort. Der Eidgenosse schwatzt Sundbäck für einige zehntausend Franken das Patent ab und entwickelt aus dem amerikanischen Urtyp ein Verschlusssystem aus Rippen und Rillen – kurz „riri“. Eine Revolution! Schon 1925 produzieren 1000 Arbeiter in Winterhalters erster Fabrik in Wuppertal zehn Kilometer „riri“ täglich.

Eine geniale Erfolgsstory, die privat in einer Katastrophe endet: Nach dem Zweiten Weltkrieg beginnt der Unternehmer damit, von wundersamen Steinchen und Wässerchen zu fantasieren, die er entdeckt habe. Der kinderlose Millionär dreht durch, lässt rauschende Feste steigen, verschleudert sein märchenhaftes Vermögen. 1961, zum 25. Firmenjubiläum, stirbt Winterhalter in der Klapsmühle. Diagnose: Paranoide Schizophrenie.

Auch für den rastlosen Querkopf Winterhalter gestaltet sich die Vermarktung des Reißverschlusses anfangs schwierig. Die konservative Kundschaft gibt sich zugeknöpft. Erst in den 1930er Jahren wird der „Zipper“ salonfähig. 1935 stattet erstmals in Deutschland das Münchner Modehaus Hirmer Herrenhosen mit Reißverschlüssen aus.

Zugeknöpfte Kundschaft

Die eigenwillige Modedesignerin Elsa Schiaparelli baut ein Jahr später knallrote Reißverschlüsse in Kleider aus Zellophan. Bald verlangt alle Welt nach Reißverschlüssen – für Tabakbeutel, Handtaschen und Ministerportefeuilles. Viele Knopf-Fabriken treibt das „infernalische Produkt“ in den Abgrund, wie der Hollywood-Streifen „Der seltsame Fall des Benjamin Button“ erzählt.

Heute, 125 Jahre nach Judsons „Klemmöffner und Klemmschließer“, werden allein in Deutschland jährlich um die 70 Millionen laufende Meter Reißverschluss produziert. So viel, dass man ihn zweimal um den Erdball wickeln könnte.

Auch im Sozialismus der DDR ratschten die Schieber unermüdlich auf und zu, vor allem bei Jugend- und „Freizeitmode mit Jeans-Charakter“. 800 Arbeiter standen bis 1990 im Thüringer Kombinat VEB Solidor Heiligenstadt am Fließband, das Jahr für Jahr 60 000 Kilometer Reißverschluss ausspuckte. „Wir benutzen sie mit mehr oder weniger Freude täglich“, schreibt 1977 der Schweriner Schriftsteller Jürgen Borchert. „Leider hat noch niemand den Schlafanzug mit Reißverschluss gefunden; welche ungeahnten Möglichkeiten der Kooperation böten sich da ...“

Ein Leben ohne Reißverschluss? Undenkbar. Längst finden wir die geniale Erfindung, die unseren Alltag erleichtert und beschleunigt, nicht nur bei Kleidern, Hosen, Taschen, Geldbeuteln und Bettwäsche. Sie verschließt auch Zelte, Tauchanzüge und feuerfeste Formel-1-Fahrerkombis, verriegelt Ölsperren, Fischer- und Vogelnetze, selbst rindslederne Bibeln, Leichensäcke, künstliche Rasenstücke auf Fußballfeldern und Patienten-Bäuche nach Operationen. Einer der größten Reißverschlüsse dümpelt in ewiger Dunkelheit: Das Monstrum liegt auf dem Grund des Atlantiks und hält die Schutzhülle eines Telefonkabels zusammen. Seine Länge erreicht 632 Meter, sein Gewicht beträgt 43 Kilogramm.

Die Produktion brummt. Heute verbraucht ein Mensch in den Industrieländern zu Lebzeiten im Schnitt mehr als 20 Meter Reißverschluss. Global Player ist ein japanischer Konzern. Die drei Buchstaben YKK – wer kennt sie nicht? Sie zieren Reißverschlüsse in der ganzen Welt. Der Gigant, seit 50 Jahren auch hierzulande einsamer Marktführer, produziert etwa die Hälfte des weltweiten Bedarfs. Besuche in der deutschen Zentrale in Mainhausen sind unerwünscht. Keine Fotos, keine Infos aus dem Reißverschluss-Imperium. „Wir zeigen nichts aus der Produktion!“ sagt die Marketing-Mitarbeiterin Naomi Kotani.

Kurt Tucholsky hatte wohl Recht, als er vor 100 Jahren scherzte: „Keiner weiß, warum der scheinbar so einfache, welterobernde Reißverschluss funktioniert... Die Fabrikanten können ihn herstellen, aber sie wissen eigentlich auch nicht ganz genau, was sie da fabrizieren...“

Reißverschlüsse

29. August 1893: Whitcom L. Judson entwickelt den ersten Reißverschluss

1913 u. 1917: US-Patente durch Gideon Sundbäck nach dem heute gebräuchlichen System

1923: Autoreifen-Firma produziert „Zipper“ für die US-Navy

1924: Schweizer Fabrikant Martin O. Winterhalter entwickelt das Verschlusssystem aus Rippen und Rillen – kurz: „riri“

1925: erste deutsche Reißverschluss-Fabrik in Wuppertal

Copyright © 2025 Mannheimer Morgen