Hockenheim/Mannheim. Soul-Musik ist mit dem Adjektiv „süß“ so untrennbar verknüpft wie Bruce Springsteen mit den USA. Den Rock-Weltstar aus New Jersey verbindet man seit Jahrzehnten allerdings eher mit Attributen wie kantig oder kraftstrotzend. Von daher war es schon überraschend, als der Boss das Ergebnis seiner Corona-Zwangspause bekanntgab: „Only The Strong Survive“, ein Album mit 15 Coverversionen mehr oder weniger bekannter Soul-Songs, das am 11. November erscheint. Da scheint ihn ein ähnlicher Virus erwischt zu haben wie sein Vorbild Bob Dylan. Der mit ebenfalls 73 Jahren unverhofft damit begann, Platten voller Interpretationen des Great American Songbook zu veröffentlichen.
Die Frage, ob Springsteen Soul kann, wischte schon das zweite vorab veröffentlichte Video (nach Frank Wilsons Uptempo-Nummer „Do I Love You (Indeed I Do)“) weg: Wie sanft und einfühlsam der Boss „Nightshift“ interpretiert, die Commodores-Hommage an die Soul-Ikonen Marvin Gaye und Jackie Wilson, war ihm trotz seiner Belcanto-Anflüge auf dem Album „Western Stars“ oder Klassikern wie „Fire“ so nicht zuzutrauen. Und das klingt auf seine unvermeidlich Springsteen-typische Art fast besser als das Original. Denn: Ohne die 1985 angesagten Gesangsgirlanden wirkt dieser Song noch zeitloser. Und das Vorurteil, „Bruuuuuce“ sei als Sänger ein One-Trick-Pony, das nur eine Gangart beherrscht, ist damit vom Tisch.
Die 15 Songs
1. „Only The Strong Survive“ (Jerry Butler 1968, Elvis 1969)
2. „Soul Days“ (Dobie Gray 2000)
3. „Nightshift“ (Commodores 1985)
4. „Do I Love You (Indeed I Do)“ (Frank Wilson 1965)
5. „The Sun Ain’t Gonna Shine Anymore“ (Frankie Valli 1965, The Walker Brothers 1966)
6. „Turn Back The Hands Of Time“ (Tyrone Davis 1970)
7. „When She Was My Girl“ (The Four Tops 1981)
8.„Hey, Western Union Man“ (Jerry Butler 1968, Diana Ross & The Supremes 1969)
9. „I Wish It Would Rain“ (The Temptations 1967)
10. „Don’t Play That Song“ (Ben E. King 1962, Aretha Franklin 1970)
11.„Any Other Way“ (William Bell 1962)
12. „I Forgot to Be Your Lover“ (William Bell 1968, Billy Idol 1986)
13. „7 Rooms Of Gloom“ (The Four Tops 1967)
14. „What Becomes Of The Brokenhearted“ (JImmy Ruffin 1966)
15. „Someday We’ll Be Together“ (Diana Ross & The Supremes 1961)
Wie Wind unter den Flügeln
Die zweite Frage: B r a u c h t man das? 15 oft erstaunlich nah am Original-Sound aufgestellte Soul-Cover von Bruce Springsteen? Nun, wir werden aufgrund dieses Albums nicht alle Rockgeschichtsbücher schreddern und neue schreiben müssen. Aber man kann diese Musik gerade im derzeitigen Krisengewitter gut g e b r a u c h e n. Denn: Sweet Soulmusic ist ja nicht nur süß, sondern meist auch uplifting – also erhebend, aufmunternd, stimmungsaufhellend, anregend ... wie Wind unter den Flügeln. Diese musikalische Seelennahrung rührt Springsteen schmackhaft und hochkalorig an. Unterstützt von Co-Produzent Ron Aniello, der auf teilweise verblüffendem Niveau alle Instrumente (bis auf die der Streicher und Bläser) eingespielt hat. Dass vor allem Schlagzeug oder Orgel kein Genre-Spezialist zuliefert, ist kaum zu glauben.
Schon der Titelsong „Only The Strong Survive“ macht als erste Nummer extrem gute Laune und nach seinem klassischen Philly-Soul-Intro auch mächtig Dampf. Der Titel von Jerry Butlers Hit aus dem Jahr 1968 ist natürlich nicht als plötzlicher Paradigmenwechsel Springsteens zum Sozialdarwinismus misszuverstehen. Wie viele Soul-Nummern liefert der Song einfache Lebenshilfe – hier die Parole: Durchhalten, wenn es hart wird. Und die Musik, die Springsteen auf seinem 21. Studioalbum mit spürbarer Begeisterung feiert, kann dabei helfen, zu den Starken zu gehören.
Das könnte ein unbewusster Impuls hinter diesem Werk sein. Denn obwohl Springsteen es auf seinen Platten zwischen 2007 und 2017 mit Magie („Magic 2007), der Beschwörung des amerikanischen Traums („Working On A Dream“ 2009), der Abrissbirne („Wrecking Ball“ 2012) und großen Hoffnungen („High Hopes (2014) versucht hat, sind die USA immer weiter auseinander gedriftet.
Erinnerung an halb vergessene Soul-Ikonen
Sein Hauptantrieb ist aber rein musikalisch: Springsteen demonstriert hier lustvoll seine Klasse und für viele immer noch unerwartete Wandelbarkeit. Und das mit Songs, die zu seiner musikalischen Sozialisation kaum weniger beitrugen als seine oft zitierten Helden Elvis, Woody Guthrie, Dylan. Es geht ihm wie so oft auch ums Erinnern: an Werte. An die wuchtige Soul-Spielart Rhythm & Blues. Und Helden. Hier ist die Song-Auswahl verdienstvoll. Denn Künstler wie die jeweils zweimal vertretenen Jerry Butler und William Bell, Frank Wilson, Tyrone Davis oder der in Dobie Grays „Soul Days“ eingeflochtene Joe Tex sind heute leider nicht mehr vielen einen Begriff. „Soul Days“ singt er im Duett mit Sam Moore (87, vom Hit-Duo Sam & Dave), genau wie „I Forgot To Be Your Lover“. Schöne Geste.

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Den Vergleich mit den absoluten Schwergewichten, vor allem denen aus dem Motown-Stall, kann selbst der Boss nicht gewinnen. Die glitzernde Dynamik der Supremes ist genau so unschlagbar wie die Gesangskunst der Temptations (wobei „I Wish It Would Rain“ eine exzellente Wahl ist). Zwei großen Bombast-Pophits der Mittsechziger ringt der Rocker hörenswert etwas andere Seiten ab: Gravitätische bei „The Sun Ain’t Gonna Shine Anymore“, die neue Version von „What Becomes Of The Brokenhearted“ wirkt kämpferischer als Jimmy Ruffins. Unspannend wird’s bei drei, vier Nummern, wenn er allzu sehr in den rockenden Boss-Modus verfällt.
Trotzdem: Die 15 Songs funktionieren als Ganzes ähnlich gut wie sein erstes Coveralbum, „We Shall Overcome: The Seeger Sessions“ (2006). Was man leicht nachvollziehen kann, wenn man sich die sehr heterogen klingenden Spotify-Playlists mit den Soul-Originalen zum Vergleich anhört. Aus der Seeger-Hommage resultierte eine der mitreißendsten Tourneen des New-Jersey-Urgesteins, die mit ihrer einmaligen Folk-Instrumentierung auf „Live in Dublin“ (2007) verewigt wurde.
Zweitgrößtes Deutschland-Konzert auf dem Hockenheimring
Ob das exzellente Material von „Only The Strong Survive“ 2023 bei den riesigen Open Airs mit der E Street Band eine große Rolle spielen wird, ist nicht unbedingt zu erwarten: Ein hoch differenzierter Sound aus Streichern, Bläsern und Chorgesang dürfte sich nicht recht eignen für mehr als 100 000 Zuschauer auf dem Hockenheimring.
Zum Konzert
- Das Konzert: Für das Open Air von Bruce Springsteen & The E Street Band am Freitag, 21. Juli 2023 auf dem Hockenheimring nähern sich die freien Plätze über eventim.de (ab 97,50 Euro plus Gebühren) langsam dem Ende.
Aber: Das fast ausverkaufte Open Air in der Mannheimer Nachbarschaft am 23. Juli 2023 (hier unser Bericht zum Vorverkaufsstart) wird Springsteens zweitgrößtes Deutschland-Konzert überhaupt. Der Rekord steht seit dem 19. Juli 1988 bei 160 000 Fans. Damals trat der Boss auf Einladung der FDJ in der Radrennbahn Weißensee auf, was für viele ein erster Nagel im Sarg der DDR war. So historisch wird es im Sommer im Hockenheimer Motodrom kaum zugehen. Dafür können seine Fans einen Bruce Springsteen erleben, der mit 73 Jahren ein so guter Sänger ist wie nie zuvor.
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