Der Dokumentarfilm erfreut sich im Kino wachsender Popularität. Was vielleicht – neben dem Überdruss an stereotyper Blockbuster-Unterhaltung – damit zu tun hat, dass er in den vergangenen Jahren im Wettbewerbsprogramm der diversen Festivals deutlich stärker vertreten ist. Vielfach prämiert zudem, siehe Michael Moores „Fahrenheit 9/11“ (2004) in Cannes, „Das andere Rom“ (2013) in Venedig, „Seefeuer“ (2016) in Berlin, beide verantwortet von Gianfranco Rosi, oder zuletzt „Sur l’Adamant“ (2023) von Nicolas Philibert, der im Februar an der Spree den Goldenen Bären entgegennehmen durfte.
Auf der 79. Mostra auf dem Lido di Venezia setzte sich vergangenen September ebenfalls eine Dokumentation – die einzige im Rennen um den Goldenen Löwen – durch: „All the Beauty and the Bloodshed“, inszeniert von Laura Poitras. Weltweite Berühmtheit erlangte sie durch ihre Oscar-prämierte Arbeit „Citizenfour“ (2014), für die sie sich mit Whistleblower Edward Snowden traf und so ins Visier von FBI und CIA geriet. Anhaltender Repressalien durch die Geheimdienste zum Trotz greift sie weiterhin unerschrocken heiße Themen auf.
Wie aktuell in ihrem eindringlichen Porträt, das um Nan Goldin, Jahrgang 1953, kreist. Mit der von ihr gegründeten Organisation P.A.I.N. ist die multi-begabte (Foto-)Künstlerin, Experimentalfilmerin („The Ballad of Sexual Dependency“) und Aktivistin gegen den Arzneimittelriesen Purdue, Hersteller des süchtig machenden Schmerzmittels OxyContin, zu Felde gezogen. Ein Kampf David gegen Goliath. Auf deren Aktionen in den von der milliardenschweren, politisch gut vernetzten Pharmadynastie Sackler unterstützten Museen, darunter der Louvre und das Guggenheim, hat Poitras ihre Heldin begleitet.
Kino und Politik
- Laura Poitras, Regisseurin und Journalistin, gewann für „Citizenfour“ (2014) den Dokumentarfilm-Oscar sowie weitere Auszeichnungen, darunter den Deutschen Filmpreis.
- Sie wurde 1964 als Tochter einer wohlhabenden Familie in Boston geboren und machte 1996 an der The New School in New York ihren Abschluss.
- Poitras ist auch bildende Künstlerin. Ihre erste Einzelschau „Astro Noise“ wurde 2016 präsentiert. 2021 zeigte die Berliner n.b.k.-Galerie ihre erste europäische Ausstellung.
- Weitere Arbeiten der politisch engagierten Produzentin sind Kurzfilme wie „Risk“ oder „Flag Wars“ und die TV-Serie „P.O.V.“
- Poitras wohnte lange Jahre in Berlin, ehe sie 2016 zurück nach New York ging.
Tiefe Einblicke in Punk-Szene
Die Auseinandersetzungen mit den mächtigen Institutionen werden ausgiebig gezeigt. Etwa der sorgfältig geplante, überfallartige Coup im New Yorker Museum of Modern Art, wo P.A.I.N.-Mitglieder den Wendelgang nutzen, um Flugblätter abzuwerfen, ehe sie sich in der Eingangshalle inmitten hunderter leerer Pillendosen tot stellen. Die Feldzüge, Transparente und Sprechchöre inklusive, ermüden – weil repetitiv – auf die Dauer, machen jedoch in puncto Aufmerksamkeitserregung Sinn. Ganz abgesehen davon, dass die (Eigen-)Propaganda bezüglich der Finanzierung des Projekts wohl notwendig war und somit legitim ist.
Wesentlich aufregender ist das parallel erzählte Leben der Ex-Striptease-Tänzerin, Ex-Prostituierten und Ex-Drogenabhängigen. Beim Entstehen ihrer legendären AIDS-Ausstellung „Witnesses: Against Our Vanishing“ ist man dabei, bekommt tiefe Einblicke in die New Yorker Punk-Szene der 1980er, trifft auf Andy Warhols Muse Edie Sedgwick, den coolen Kult-Filmer Jim Jarmusch („Stranger Than Paradise“), das Leinwand-Enfant-Terrible John Waters („Mondo Trasho“) und seinen schwergewichtigen Star, die Drag-Queen Divine („Pink Flamingos“). Eine spannende Zeitreise, schmerzhaft offen, bis hin zum von der Protagonistin gefilmten Sex mit einem ihrer ehemaligen Partner: „Manchmal haben wir, wenn wir’s privater haben wollten, im Aufzug gevögelt. Unser Loft hatte damals noch keine Wände“.
Perfekt ergänzen sich die beiden Ebenen, wobei Godins Vergangenheit ihre Gegenwart bedingt. Eine hellsichtiges Werk um das Wesen und die Folgen der Opioidkrise und zugleich ein faszinierendes Biopic. Ausführlich wird Goldins Herkunft geschildert, die in der erstickenden Enge einer prototypischen US-Vorstadt aufgewachsen ist. Ihre ältere Schwester Barbara – auf sie bezieht sich der Titel – beging mit 18 Jahren Selbstmord, nachdem sie ob ihrer „Rebellion“ mehrfach in psychiatrische Anstalten eingewiesen wurde. Sie selbst zog als 14-Jährige von zu Hause aus und tauchte in der Subkultur von Boston unter.
Turbulentes Dasein
Eine epische, anrührende, hoch emotionale Geschichte, ein Wechselbad der Gefühle, aufbereitet mit Hilfe von Diavorträgen, intimen Dialogen, bahnbrechenden Fotografien und seltenem Filmmaterial.
Besonders raffiniert ist ein Kniff der Regisseurin, der darin besteht, dass sie die ewig rebellische Goldin während ihrer Interviews nicht gefilmt, sondern nur ihre Sprache aufgezeichnet hat. So konnte die Befragte, die sich gerne selbstironisch gibt, wohl freier und ungehemmter sprechen. Gebannt lauscht man ihrer rauen, festen Stimme, registriert staunend, wie diese unkonventionelle Frau ihr schweres Schicksal gemeistert hat. Ein turbulentes, spannendes Dasein. Nicht ohne kleine Fehltritte, die man ihr verzeiht: „Ich war mein Leben lang eine ziemlich gute Ladendiebin“.
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