Eigentlich ist Sanders Roscoe ein wortkarger Mensch. Journalisten zeigt er die kalte Schulter. Auch den neugierigen Schreiberling von der „Denver Post“, der eine Sensation wittert, würdigt er keines Blickes. Er findet es niederträchtig, dass man seine Nachbarin, die 80-jährige Edith Goodnough, als Mörderin verhaften und die alte Frau, die ihr ganzes Leben lang in der staubigen Prärie von Colorado hart geschuftet hat, aufgrund von Gerüchten vor Gericht zerren will. Aber bevor die Zeitungen Lügen zur Wahrheit erklären und Fantasien als Fakten verkaufen, bricht er sein Schweigen und erzählt die traurige Geschichte von Edith und von ihrem durch Anpassung und Unterwerfung an archaische familiäre Verstrickungen geprägten Leben lieber selbst.
Er hat das alles hautnah miterlebt. War doch sein Vater einst unglücklich in Edith verliebt und hat wie ein Hund gelitten, als sie ihn abweisen musste, weil sie ihren kranken Vater nicht allein lassen mochte, der bei einem Arbeitsunfall seine Finger verloren hatte und auf Hilfe angewiesen war. Später musste sie sich um ihren Bruder Lyman kümmern, der erst jahrelang durch die Welt zog und – kaum wieder zurück auf der Farm – zum Pflegefall wurde.
Kent Haruf erzählt in seinem Roman „Das Band, das uns hält“ von einem Landleben, das alles andere als romantisch ist, sondern reich an Entbehrung und Gewalt, Verrat und Wut. Ohne die Freundschaft und Liebe, die Edith zeitlebens bei ihren Nachbarn gefunden hat, erst bei John, dann bei seinem Sohn Sandy und schließlich bei dessen Tochter Rena, hätte sie den täglichen Terror ihres stets wütenden Vaters und die Unberechenbarkeit ihres in die Demenz rutschenden Bruders nicht ausgehalten.
Lange unbekannt
Kent Haruf (1943-2014) war der literarische Chronist der kleinen Leute, die sich abstrampeln gegen die Zumutungen der Wirklichkeit, doch ihre Träume von einem besseren Leben nicht aufgeben wollen. Sechs Romane hat er hinterlassen. Sie spielen alle in der fiktiven Stadt Holt/Colorado. Lange war er ein „Writer’s Writer“, von Schriftsteller-Kollegen verehrt, aber einem größeren Publikum unbekannt. Das hat sich erst geändert, als sein letzter Roman, „Unsere Seelen bei Nacht“, mit Robert Redford und Jane Fonda verfilmt und zum Kino-Hit wurde.
Dass seine Bücher-Serie „rückwärts“ übersetzt wurde und nun erst der Roman, mit dem alles begann, im Deutschen vorliegt, ist seltsam. Hat aber auch seinen Reiz. Aus dem Munde von Sandy Roscoe erfahren wir jetzt, wie einst die Siedler mit haltlosen Versprechen in die staubtrockene Gegend gelockt wurden und sie sich irgendwo im Nirgendwo eine Existenz aufbauten. Wie Holt immer weiter wuchs und die Moderne langsam Einzug hielt. Welche Opfer die Menschen brachten und wie sie Zuflucht suchten in kleinen Freuden und großen Träumen.
Die Geschichte von Edith wird zur politischen Geschichte Amerikas. Haruf erzählt von Menschen, die auf der Suche nach dem Glück bereit waren, alles aufzugeben – aber kaum Erlösung, Frieden und Freiheit fanden.
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