Literatur

Chronik laufender Ereignisse

Navid Kermanis Roman „Das Alphabet bis S“ verknüpft aufs Schönste Literatur und Leben

Von 
Hans-Dieter Fronz
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Der Schriftsteller Navid Kermani schreibt in seinem neuen Buch aus der Perspektive einer Frau. © Thomas Banneyer/picture alliance/dpa

Wer liest, nimmt für die Dauer der Lektüre nicht wirklich am Leben teil. Umgekehrt hat, wer sein Leben lebt, das Feld der Literatur und der Fiktion immer schon verlassen. Die Dialektik von Literatur und Leben ist in Navid Kermanis Werk ein wichtiges Thema – auch im neuen Roman mit dem leicht schillernden Titel „Das Alphabet bis S“.

Den Ich-Erzähler des Buchs, hinter dem sich niemand anderer verbirgt als Kermani selbst, macht er zur Erzählerin – wohl weil zu viele Parameter der Romanfigur mit denen des eigenen Lebens übereinstimmen: der Wohnort Köln, die iranischen Wurzeln, der Schriftstellerberuf und die Trennung von der Ehegattin (seit 2020 ist Kermani geschieden); nicht zuletzt: das Alter. Kermani ist Mitte fünfzig, seine Figur entsprechend in den Wechseljahren. Als Form der Verfremdung ist seine Geschlechtsumwandlung in eine Erzählerin zugleich ein Mittel, die Romanfigur auf Distanz zu halten. Womöglich dreht Kermani in ihr auch dem ideologisch verhärteten identitätspolitischen Diskurs spöttisch eine lange Nase. Gleichviel, die Figur ist literarisch glaubhaft, sie funktioniert.

Nach der Trennung von ihrem Mann ist für die namenlose Ich-Erzählerin vom einen auf den anderen Tag viel Platz in der bis dahin gemeinsamen Bibliothek. Gefüllt wird er mit Büchern, deren Standort zuvor die „Lesegruft“ war: eine Art Lese- oder Schmökerkammer mit belletristischer Handbibliothek. Der Kehraus führt zu einer Neusortierung der Bücherreihen – und zur Durchforstung der von A bis Z alphabetisch nach Schriftstellernamen geordneten bereits gelesenen wie auch der nicht gelesenen Titel, im Hinblick auf ihre (Re-)Lektüre. Das ganze Alphabet ist ihr Ziel.

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Wie gut, dass die Erzählerin, die als Reiseschriftstellerin und Kriegsreporterin selbst Bücher veröffentlicht, gerade viel Zeit zum Lesen hat. Ihr neues Buch steht kurz vor dem Erscheinen. Vor ihr liegen auch etliche Termine für Lesungen, doch die Tage zuhause verbringt sie, falls sie nicht gerade Yoga praktiziert oder sich beim Joggen über freilaufende Hunde ärgert, am liebsten in der Lesegruft. Schon dem an Heines „Matratzengruft“ angelehnten Begriff ist das Spannungsverhältnis von Leben und Lesen eingeschrieben: Wer liest, lebt eigentlich nicht mehr, ist aus dem Leben herausgetreten.

Kluge Aphorismen

Zum Ausgleich für die vielen der Lebenspraxis geraubten Lektürestunden beschließt die Ich-Erzählerin, eine Art Tagebuch zu schreiben. Die Geschehnisse des Alltags, so unwichtig sie sein mögen, will sie darin aufzeichnen. Als Chronik der „laufenden Ereignisse“ ist das Journal eines ganzen Jahres Kermanis Roman selbst: mit 365 Kapiteln, von denen einige infolge eines katastrophalen Ereignisses, das sie vom Schreiben abhält, leer bleiben.

Dabei wird diese Chronik der Ereignisse geradezu überwuchert von den Gedanken der passionierten Leserin über die Bücher, die sie liest, wie zu den literarischen Themen, die sie beschäftigen. Selbst das Tagebuch tendiert ins Literarische. Funkelt es doch vor geschliffenen Sentenzen, klugen Aphorismen und Aperçus und versammelt Reflexionen jedweder Art, um sich sporadisch zu kurzen Essays auszuwachsen, die kulturelle und gesellschaftliche Phänomene beleuchten. Unschwer erkennen wir in ihnen Kermani selbst, der sich an mannigfachen gesellschaftlichen und kulturellen Diskussionen der Zeit kritisch beteiligt – bis hin zur Genderisierung der Sprache. Nicht zuletzt entspringen die Reflexionen in dem Buch Begegnungen mit Literaten wie Paul Nizon und Helene Hegemann (oder der fiktiven Gestalt seines Förderers Offenbach). Sie dürften auf Begegnungen des Autors selbst zurückgehen.

Rein äußerlich geschieht nicht viel in dem Roman. Ist das eigene Leben „ruiniert“, verbringt man die „beste Zeit“ auch tatsächlich am liebsten mit Bücherlesen. Es ist denn auch die Literatur, die der Erzählerin in den ihr auferlegten Prüfungen –wie dem Tod der Mutter zu Beginn –Halt gibt. Wie ein Mantra wiederholt sie den Satz: „Muss im Alphabet fortfahren“. Am Ende des Jahres und des Buchs hat sie es dennoch gerade mal bis zum Buchstaben S geschafft.

Denn die „taffste Frau der Welt“, wie sie der „Spiegel“ ob ihrer mutigen Kriegsreportagen nennt, schlittert in eine Lebenskrise und Depression hinein, als der Sohn an einer lebensgefährlichen Infektion erkrankt. Auch die Fernbeziehung zu dem getrennt lebenden Mann, bei dem der Sohn die Hälfte seiner Zeit verbringt, hält stets aufs neue Enttäuschungen bereit. Die inbrünstige Gottsuche der Erzählerin im Roman, dessen negative Theologie die Existenz Gottes als „Leerstelle“ begreift, darf so auch als Suche nach Halt in unserer Existenz als Menschen verstanden werden.

Freier Autor

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