Ein ganzer Kontinent - Europa! - ohne Eigenschaften? Peter Sloterdijk nennt sein Buch entsprechend. Man dachte ja, es gäbe deren beinah zu viele. Wie wär‘s beispielsweise mit französischem Savoir-vivre? Mit italienischem Temperament - oder der deutschen Pünktlich-, Gründlich- und Gemütlichkeit? Doch Nationalcharaktere oder -eigenschaften sind Sloterdijks Thema nicht. Und man muss schon ein Sensorium für die Musil‘schen Obertöne im Titel des Buchs haben, um gewahr zu werden, dass das darin anklingende Urteil über die Alte Welt keineswegs ein im Grunde pejoratives ist.
Dennoch ist das von Sloterdijk zitierte, Henry Kissinger wohl fälschlicherweise zugeschriebene Bonmot von der „telefonischen Unerreichbarkeit Europas“ in seinem sachlichen Gehalt kein bloßer Witz. Denn die oft beklagte Anonymität Europas, seine Ungreifbarkeit in mancherlei Hinsicht ist ja keine bloße Erfindung. Was jedenfalls fehlt, sind handfeste und tragfähige Begriffe für dieses - so Sloterdijk - „politische und kulturelle Novum“ in der Menschheitsgeschichte.
Fulminante Geschichtsschau und Lesevergnügen erster Güte
Aber wo ist dieses Novum beheimatet? Geografisch gesehen ist Europa laut Sloterdijk nicht mehr als eine Art „Vorgebirge Asiens“. Auch zählt der „zerklüftete Halbkontinent“ für ihn längst zum „Rest der Welt“. Wo man doch früher, in den Hochzeiten kolonialistischer und imperialistischer „Weltnahme“, selbstbewusst stets von „Europa und dem Rest der Welt“ sprach. Auch in der westlichen Sphäre hat der jüngere Bruder USA die Führungsrolle übernommen.
In ausgedehnten Exkursionen durch die letzten zweieinhalb Jahrtausende stellt Sloterdijk Bezüge zwischen unterschiedlichsten Epochen her und zeichnet verblüffende Entwicklungslinien nach - von der griechischen Antike bis zu den imperialistischen Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts, von der mittelalterlichen Frömmigkeit bis zu Peter Burkes Wort von der „Explosion des Wissens“.
Mit Blick auf die Zeitgeschichte des Kontinents spricht Sloterdijk von einer „unresümierbaren Fülle an Lebensformen, Künsten und Literaturen, an Mobilitäten, Kreativitäten und Sensibilitäten“. Ursächlich mit dieser Fülle verbunden ist die singuläre, auf Selbsterforschung und Selbstkritik beruhende „Lerndynamik“. Als bedeutendste Leistung Europas will Sloterdijk die Befreiung des Individuums aus seiner babylonischen Gefangenschaft in (nicht zuletzt religiösen) Gruppenzwängen sowie eine Art „progressives Verlernen der Unterwürfigkeit“ erscheinen. Die Kehrseite ist eine Art Geschichtsvergessenheit. In ihrem Windschatten stellt Europa, so Sloterdijk, für die Mehrheit seiner Bewohner nicht viel mehr dar als ein Versprechen des Konsumismus und die „Ausfahrt aus der Weltgeschichte in die Ferien“. Es sind nicht zuletzt Bemerkungen wie diese, die Sloterdijks so fulminante wie erhellende Geschichtsschau mit ihrer horizonterweiternden Kraft zu einem Lesevergnügen erster Güte machen.
„Der Kontinent ohne Eigenschaften.“ Suhrkamp. 304 S., 28 Euro.
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