Als Rollstuhlfahrer das Haus zu verlassen, ist immer ein kleines Abenteuer. Nicht zuletzt weil eine harmlos aussehende Stufe das Ende bedeuten kann.“ Michael Schreiner weiß, wovon er spricht: Er sitzt seit fast 40 Jahren im Rollstuhl. Seiner Reiselust tut das keinen Abbruch. Im Gegenteil: Nach dem Motto „Einfach etwas wagen und losziehen“ zog es den 62-Jährigen bereits nach Neuseeland, Bhutan und auf den Amazonas.
Dabei hilft ihm stets eine Mischung aus umfassender Vorbereitung und Flexibilität vor Ort. „Wenn ich in der Fremde eine Broschüre mit einem Rollstuhlfahrer darauf sehe, stürz ich mich drauf, weil ich da sicher bin, wichtige Infos zu finden.“ Die will er auch anderen vermitteln. Daher testet er rund um seinen Heimatort Dahn in der Pfalz Aussichtspunkte, Gaststätten, Ferienwohnungen, Hotels und Campingplätze. Mit den regionalen Tourismusverbänden entstand daraus ein auch 2021 aktualisiertes Heft mit dem Titel „Südwestpfalz barrierefrei“– mit Tipps rund um die Barrierefreiheit. Ein ganz aktueller Tipp liegt weiter östlich – der seit 2020 komplett barrierefreie Pilgerweg von Worms nach Lauterbourg. Roland Zick, Präsident der St. Jakobus-Gesellschaft Rheinland-Pfalz-Saarland, spricht von einer „Weltneuheit“. Warum das? „Ich habe noch nicht gehört, dass es irgendwo eine barrierefreie Pilgerstrecke von mehr als 100 Kilometern gibt mit allem, was dazugehört, wie Karten, Wegbeschreibungen, Sehenswürdigkeiten, Toiletten, Bahnhöfe und Unterkünfte.“
Das Angebot kommt gut an. Kein Wunder: Pilgern und generell Wandern liegen im Trend. Bei den rund zehn Millionen in Deutschland lebenden Menschen mit Behinderung und deren Reisebegleitern ist das nicht anders, unterscheiden sich deren Urlaubswünsche doch kaum von denen Nicht-Behinderter. Demnach ist bei der Auswahl des Urlaubsziels für rund 95 Prozent die Barrierefreiheit vor Ort wichtig oder sogar sehr wichtig. „Barrierefreiheit bezieht sich aber nicht nur auf das einzelne touristische Angebot, etwa den Fahrstuhl im Hotel“, weiß Studienleiter Peter Neumann. „Vielmehr muss die gesamte Servicekette barrierefrei sein und dem Gast, egal ob mit oder ohne Behinderung, ein sicheres und komfortables Urlaubserlebnis bieten – beginnend bei der Anreise bis hin zu Restaurantbesuchen.“
Ein weiteres Forschungsergebnis: Bei der Reisevorbereitung steht das Internet an erster Stelle der Informationsquellen. Besonders beliebt sind Spezial-Websites wie www.reisen-ohne-barrieren.eu des Bundesverbands Selbsthilfe Körperbehinderter oder www.wheelmap.org des Vereins Sozialhelden. Auf der interaktiven Webkarte werden rollstuhlgerechte Cafés, Schwimmbäder und weitere öffentliche Orte in ganz Europa verortet.
Mit dem „Euro-Schlüssel“ lassen sich WCs öffnen
Immer größer wird die Anzahl der Lizenznehmer des Labels „Reisen für alle“. Die Zertifizierung gibt es übrigens nicht nur für Unterkünfte oder Museen. Ostfriesland etwa wurde 2018 als erste Region mit dem Siegel „Barrierefreiheit geprüft“ ausgezeichnet. Seit 2019 ist die „Reisen für alle“-Datenbank in das Online-Informationsangebot der Deutschen Zentrale für Tourismus e. V. (DZT) integriert. Rund 3300 Angebote und Einrichtungen lassen sich derzeit finden, davon sind etwa 40 Prozent Gastgeber.
Bei denen buchen – noch eine Studienerkenntnis – die meisten direkt. Denn auch wenn es etliche Spezialveranstalter gibt, die neben Segeltörns und Busreisen auch Safaris in Afrika oder Rolli-Reisen am Nordkap anbieten, Individualreisen stehen höher im Kurs. Clevere Vielreisende sind dabei im Besitz eines „Euro-Schlüssels“, mit dem sich 12 000 behindertengerechte WCs in Europa öffnen lassen.
Für 20 Euro ist der Schlüssel beim CBF Darmstadt, dem Club Behinderter und ihrer Freunde, erhältlich. Etwas mehr kostet das Package mit dem Verzeichnis „Der Locus“, das ebenjene mit dem „Euro-Schlüssel“ zu öffnende Autobahn- und Bahnhofstoiletten sowie öffentliche WCs in Fußgängerzonen, Museen und Behörden auflistet. Unter www.natko.de zu beziehen ist die (Online-) Broschüre „Barrierefreies Reisen mit dem Flugzeug“. So viel vorab: Passagiere haben seit 2008 Anspruch auf kostenlose Hilfe auf dem Weg vom Check-in zum Flugzeug sowie beim Ein- und Aussteigen – und die Gratisbeförderung von Rollstühlen, Blindenhunden und anderen Hilfsmitteln.
Damit steht, von pandemiebedingten Reisebeschränkungen abgesehen, die Welt offen. Wobei die USA weltweit ganz vorne mitspielen in puncto barrierefreies Reisen, in Europa sind es die skandinavischen Länder. Ein guter Indikator für Städtereisen: die Sieger der Access City Awards – darunter Warschau, Mailand und Berlin -, mit denen die Europäische Kommission deren Bemühungen für Barrierefreiheit würdigt.
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