Im Winter des Jahres 1944 liegt das entlegene Trentiner Bergdorf Vermiglio friedlich unter einer dichten, hohen Schneedecke. Die vielen Kinder der Großfamilie Graziadei ruhen noch in ihren mehrfach belegten Betten. Wenn sie kurz darauf mit ihren Tassen die heiße Morgenmilch in Empfang nehmen, geht alles seinen gewohnten Gang. In der Schule betet man auf Lateinisch und absolviert ein paar gymnastische Übungen, bevor der Unterricht losgeht.
Mit strenger Bestimmtheit fordert der Dorfschullehrer Cesare Graziadei (Tommaso Ragno) von den Kindern Disziplin und zeigt sich zugleich einfühlsam und verständnisvoll. Zwischen seinen eigenen und den fremden Kindern macht er keinen Unterschied. An den Wochenenden gibt er Alphabetisierungskurse für Erwachsene. Und doch muss sich der schöngeistige Familienpatriarch vor allem aus finanziellen Gründen in Bezug auf seine eigenen Kinder entscheiden, welches von ihnen mit einer höheren Bildung gefördert werden soll.
Entgegen dem ersten Eindruck erzählt Maura Delpero in ihrem beeindruckend gestalteten Film „Vermiglio“ nicht von einer Idylle aus ferner Zeit inmitten einer malerischen Natur. Denn das von tiefer Frömmigkeit und familiärem Zusammenhalt geprägte Leben erscheint zwar einfach und auf das existentiell Wesentliche konzentriert, zugleich ist es aber karg und voller Entbehrungen. Außerdem künden grummelnde Flugzeugmotoren und traumatisierte Heimkehrer von einem Krieg, der noch nicht zu Ende ist.
Unter ihnen befindet sich der junge sizilianische Deserteur Pietro Riso (Giuseppe De Domenico), der einen Neffen des Lehrers gerettet hat und jetzt Unterschlupf bei der Familie findet. Er sei „ein von Gott gesandter Engel“, sagt deshalb die überglückliche Mutter des Geretteten. Doch der schweigsame Fremde, der von den Dörflern misstrauisch beäugt wird, wähnt sich von sich selbst dissoziiert: „Es ist, als sei man am Leben, aber nicht wirklich.“ Mit der ältesten Lehrer-Tochter Lucia (Martina Scrinzi) wird er eine zärtliche Liebesbeziehung eingehen, die entgegen dem Anschein unter keinem guten Stern steht.
Regisseurin setzt auf Bilder mehr als auf Worte
Maura Delperos behutsam und völlig undramatisch erzählte Familiengeschichte, die von der Familie ihres Großvaters inspiriert wurde, widmet sich ihrem vielstimmigen Ensemble gleichberechtigter Figuren, um individuelle Widersprüche in eine Beziehung zur Gemeinschaft zu setzen. So bleibt der Einzelne mit seiner inneren Realität immer ein Teil des kollektiven Ganzen, das Delpero mit naturalistischem Blick sowohl in seiner Schönheit als auch Rauheit zeigt. Ihr auf das Wesentliche konzentrierter, von einer dichten Atmosphäre bestimmter Film lässt auf diskrete Weise Lücken, bebildert nicht alles und vertraut doch mehr den sorgsam ausgewählten Bildern als den sparsam gesetzten, aber umso wirkungsvolleren Worten.
Delperos filmische „Hommage an eine kollektive Erinnerung“ macht eine vergangene Zeit und Lebensweise lebendig, ohne sie zu verklären und bewahrt sie damit vor dem Vergessen.
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