Man schreibt Dienstag, den 30. Januar 1945. Der zwölfte Jahrestag von Hitlers Machtergreifung und vier Monate vor Kriegsende. In einer abendlichen Rundfunkansprache schwadroniert der Diktator von Wunderwaffen, die den Endsieg brächten, Kränze auf den Gräbern zu Lorbeerkränzen werden ließen. 10.000 Flüchtlinge auf der „Wilhelm Gustloff“ erleben eine andere, eine schreckliche Realität: Das ehemalige Kreuzfahrtschiff wird in der Ostsee von einem russischen U-Boot versenkt. Etwa 9.000 Menschen sterben, sechs Mal so viele wie auf der „Titanic“ 33 Jahre zuvor. Die größte Schiffskatastrophe der Geschichte.
Von Anfang an steht das 1936 auf der Traditionswerft Blohm & Voss in Hamburg gebaute Schiff unter einem bösen Omen. Zunächst soll es sogar den Namen Hitlers tragen, doch der entscheidet sich bald anders: Denn während der Bauarbeiten wird in Davos der Führer der NSDAP-Auslandsorganisation in der Schweiz, Wilhelm Gustloff, ermordet, ein fanatischer Anhänger Hitlers. „Ich liebe auf der Welt am meisten meine Frau und meine Mutter“, lautet eine charakterische Aussage: „Wenn der Führer mir aber befähle, sie zu töten, so würde ich ihm gehorchen.“
Täter ist der in die Schweiz geflohene jüdische Student David Frankfurter, der damit gegen die Verfolgung der Juden in Deutschland protestieren will. Nach seiner Tat stellt er sich den Behörden und wird in der Schweiz zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt, 1945 jedoch begnadigt. Er geht nach Israel, wo er 1982 stirbt.
Gustloff wiederum wird in Hitler-Deutschland nach seinem Tode zum „Blutzeugen der Bewegung“. So ist es seine Witwe Hedwig, eine frühere Sekretärin Hitlers, die 1937 in Anwesenheit des „Führers“ das Schiff auf den Namen ihres Mannes tauft.
Deutschlands Antwort auf die „Queen Mary“
Der 208 Meter lange Kahn ist die Antwort Deutschlands auf die „Queen Mary“, umfasst sieben Decks, Swimming pool und Kino. Prachtstück von „Kraft durch Freude“ (KdF), des gigantischen Ferienprogramms der Nazis, das viele Arbeiter mit dem Regime versöhnt. Denn auch ihnen sind nun, damals eine Sensation, Kreuzfahrten möglich, kostengünstig für 50 Reichsmark (umgerechnet 200 Euro).
Doch nur zwei Jahre später hat die Urlaubsidylle ein Ende: Nach 44 Kreuzfahrten wird die „Gustloff“ mit Kriegsbeginn 1939 zum Truppentransporter mit grauem Tarnanstrich, später zum Lazarettschiff.
Infos und Tipps für Interessierte
- Das Wrack liegt in der Ostsee vor Stolpmünde in 45 Metern Tiefe, offiziell profan als „Navigationshindernis Nr. 73“ bezeichnet. Als Seekriegsgrab ist es jedoch vor allem ein geschütztes Denkmal. Taucher der polnischen Küstenwache bargen 1979 die Schiffsglocke, die heute im Weltkriegsmuseum Danzig zu sehen ist.
- Weitere Ausstellungen : Das Internationale Maritime Museum Hamburg zeigt ein Modell und zwei Artefakte: eine Speisekarte und einen Rettungsring. Den historischen Hintergründen widmet sich sehr differentiert das neue „Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ in Berlin (www.flucht-vertreibung-versoehnung.de)
- Das Gedenken erfolgte in den ersten Jahrzehnten nach dem Kriege vor allem durch die Überlebenden, etwa bei Treffen zu Jahrestagen im Ostseebad Damp. Initiator war Heinz Schön, der die Katastrophe als 19-jähriger Zahlmeisterlehring überlebte und die Erinnerung daran bis zu seinem Tod 2013 wachhielt; 1986 ehrte ihn Bundespräsident von Weizsäcker mit dem Bundesverdienstkreuz.
- Geschichtswissenschaft und Publizistik taten sich dagegen, um dem Eindruck der „Aufrechnung“ für deutsche Verbrechen zu vermeiden, lange schwer, Flucht und Vertreibung von Deutschen zu thematisieren. Dies änderte sich erst in den 1990er Jahren.
- Literatur : „Die Wilhelm Gustloff. Geschichte und Erinnerung eines Untergangs“, hg. von Bill Niven (2011). In seiner Novelle „Im Krebsgang“ befasst sich 2002 auch Günter Grass literarisch mit dem Attentat auf NS-Größe Gustfoff und den Umtergang des Schiffes.
- Dokudrama : „Nacht fiel über Gotenhafen“ von 1959, ein Helden-/Opfer-Epos mit den Stars jener Zeit: Sonja Ziemann, Gunnar Möller, Erik Schumann, Brigitte Horney, Wolfgang Preiß. „Die Gustloff“, ZDF, 2008, mit Heiner Lauterbach, Michael Mendl, Valerie Niehaus. tin
Derart liegt sie Anfang 1945 in der Danziger Bucht. Bereit, Flüchtlinge aus dem Osten aufzunehmen. Denn die russische Armee rückt unaufhaltsam näher. Zu lange hat die Naziführung die Evakuierung der Zivilbevölkerung als „Defätismus“ untersagt, nun drängen Hunderttausende in den Westen. Aus Angst vor Rache der Sieger für die deutschen Verbrechen in Russland, diese Angst durch die Propaganda der Nazis geschürt, aber auch durch reale Vorkommnisse in den von der Roten Armee eroberten Gebieten begründet.
Aufgrund der zu späten Evakuierung ist die Landverbindung zwischen Ost- und Westpreußen zerschnitten. So bleibt nur das Meer. Tausende versammeln sich an der Ostseeküste vor Danzig. Am Ende drängen sich auf der für 1.500 Passagiere ausgelegten „Gustloff“ wohl mehr als 10.000 Menschen, davon 8.000 Zivilisten und 2.500 Soldaten, darunter 162 Verwundete. Genaue Zahlen gibt es nicht angesichts des Chaos in diesen letzten Kriegstagen.
Am 30. Januar, 13 Uhr, legt das Schiff Richtung Westen ab. Als Geleitschutz dient das Torpedoboot „Löwe“, dessen Horchgerät zur Ortung feindlicher U-Boote jedoch eingefroren ist. Um 21.04 Uhr gerät das Schiff in Höhe von Stolpmünde ins Visier eines sowjetischen U-Bootes. Eines derer, die - bittere Ironie der Geschichte - in der Zeit der Rüstungskooperation zwischen Hitler und Stalin von den Deutschen konstruiert werden.
Um 21.15 Uhr gibt der Kommandant Alexander Marinesko den Befehl zum Feuern auf das 700 Meter entfernte Schiff. Vier Torpedos verlassen die Rohre. Der este, nach Stalin benannt, verfehlt sein Ziel, die anderen namens „Mutterland“, „Volk“ und „Leningrad“ treffen.
Nach dem Torpedoeinschlag unsagbarer Schrecken
Tonnenweise dringen eiskalte Fluten ins Schiffsinnere, das für Tausende zum Grab wird. Sie haben erst gar nicht die Chance, das Oberdeck zu erreichen, auf dem die Rettungsboote warten, an denen sich ebenfalls Dramen abspielen, die man nur aus Katastrophenfilmen kennt.
Bei Schneetreiben, Windstärke 7 und 18 Grad minus tobt der Kampf ums Überleben. Im Halbdunkel irren Tausende von Menschen, die meisten zuvor noch nie auf einem solch großen Schiff, orientierungslos umher. Da sich das Vorschiff nach unten senkt, rutschen viele über das vereiste Deck direkt ins Wasser, als erstes die Kinderwagen.
Kinder rufen nach ihren Müttern, Mütter nach ihren Kindern, viele nach Gott: „Herr, hilf uns!“, hört man. Manche Alte und Verwundete, geschwächt von wochenlanger Flucht zu Fuß, warten lethargisch, dass eine Welle sie ins Meer spült und ihren Qualen so ein Ende bereitet. Ein beinamputierter Soldat fleht seinen Kameraden an, ihn zu erschießen. Aus seiner Sicht besser, als elendig zu ertrinken. Aus gleichem Grunde erschießt ein Familienvater seine beiden Kinder und seine Frau; als er die Pistole gegen sich richtet, merkt er entsetzt, dass im Lauf keine Kugel mehr ist.
Auch diejenigen, die ein Rettungsboot erreichen, sind keineswegs gerettet. Die Zahl der Boote ist auf die ursprüngliche Passagierzahl von 1.500 ausgerichtet, und in einem Boot haben maximal 40 Menschen Platz. Mit entsicherten Waffen achten die Marinesoldaten darauf, dass wirklich erst Frauen und Kinder einsteigen. Ein Matrose, der einer Frauenleiche deren Kleider entrissen und sich als Frau verkleidet hat, wird entdeckt und sofort erschossen.
Angesichts von 18 Grad unter Null sind die Davits der Rettungsboote eingefroren, müssen erst losgeeist werden. Manche reißen, und die voll besetzten Boote krachen in die Fluten. Wer keinen Platz erhält, hängt sich in waghalsigen Manövern an ein Boot und wird zerschmettert, wenn es im Seegang an die Schiffswand knallt. Im Wasser klammern sich Ertrinkende an die Boote, die Insassen hämmern mit den Rudern auf ihre Finger, da sonst sie selbst wegen der Schlagseite sinken.
Hunderte gehen am Ende noch in jenem gigantischen Strudel unter, der entsteht, als das Schiff nach 62 Minuten im Meer versinkt. Wie von Geisterhand bedient, gehen kurz zuvor noch einmal alle Lichter und Sirenen an, als wolle sich das Schiff gegen seinen Untergang aufbäumen.
Kleine Wunder: Ein Säugling überlebt im Rettungsboot
Und doch geschehen in all diesem riesigen Grauen kleine Wunder. Nach sieben Stunden wird in einem Rettungsboot ein in Decken gehüllter Säugling entdeckt, seine Mutter und ihr zweites Kind tot neben ihm. Als Erwachsenen zieht es ihn später beruflich quasi schicksalhaft wieder aufs Wasser: Er wird Kapitän eines Handelsschiffes.
Das deutsche U-Boot „Löwe“ und der Zerstörer „TZ 35“, selbst schon überfüllt mit Flüchtlingen, können 1.252 Schiffbrüchige bergen. Die Übrigen, etwa 9.000 Menschen, sterben, darunter mindestens 2.000 Kinder. Am Tag danach rühmt Radio Moskau die Versenkung des Schiffes, „das 10.000 ausgerüstete Soldaten an Bord hatte.“ Eine Lüge.
Der Mann, der den Befehl zum Versenken gibt, wird nicht glücklich. Wegen Alkoholsucht wird Marinesko nach dem Kriege aus der Armee entlassen, kommt wegen Diebstahls in eines der Straflager Stalins, wird erst nach dessen Tod entlassen und stirbt 1963 in Leningrad. Just Michail Gorbatschow ist es, der ihn posthum 1990 zu einem der letzten „Helden der Sowjetunion“ erhebt, nach dem in Kaliningrad eine Straße benannt ist und an den in St. Petersburg ein Denkmal erinnert.
Ein Kriegsverbrechen ist seine Tat gemäß Kriegsvölkerrecht laut Experten übrigens nicht. Die „Gustloff“ hat Soldaten an Bord, ist mit Flak ausgestattet und nicht beim Internationalen Roten Kreuz als Lazarettschiff registriert. „Das ist kein Terroranschlag out of the blue gewesen“, betont Historiker Axel Schildt, „sondern die Folge eines Krieges, der von Deutschland ausgegangen ist. Deutschland hat Europa mit Krieg, mit Mord überzogen, und der Krieg ist zurückgekehrt.“
Unterstrichen wird dies durch die Duplizität der Ereignisse: Nur drei Tage vor der Versenkung der „Gustloff“ wird ein Ort befreit, in dem mehr als eine Million Menschen ermordet wurden - das Vernichtungslager Auschwitz.
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