Mannheim. So ungerecht kann Geschichte sein: Der Dom von Pisa gilt dank seiner Größe und seiner Erscheinung in leuchtend weißem Marmor 200 Jahre lang als monumentalstes Werk christlicher Architektur, gar als Vorbild berühmter Kathedralen wie Florenz und Siena. Und dennoch kennt man von ihm, ja von der gesamten Stadt vor allem ein baulich missglücktes Element: den Glockenturm. Eben den Schiefen Turm von Pisa.
Dabei ist Pisa im Mittelalter ein mächtiger Stadtstaat in der Toskana. Ab dem 11. Jahrhundert bildet er als eine der vier „Seefahrerrepubliken“ (neben Genua, Amalfi und Venedig) die zentrale wirtschaftliche und damit politische Macht im westlichen Mittelmeerraum, beherrscht sogar Sardinien und Korsika.
In diese Blütezeit Pisas fällt am nordwestlichen Ende der Stadt die Anlage eines religiösen Ensembles, bestehend aus Dom, Baptisterium (Taufkirche) und Friedhof. Ein Ort, den der italienische Nationaldichter Gabriele d‘Annunzio im 20. Jahrhundert als „Piazza de Miracoli“ (Platz der Wunder) rühmen wird.
Der Bau des Doms beginnt 1063, im gleichen Jahr wie für den Markusdom in Venedig, was vom religiösen und damit politischen Wettstreit dieser beiden Stadtstaaten zeugt. Wie das venezianische Kirchenbauwerk, so offenbart auch jenes in Pisa Anklänge an den byzantinischen Stil, den die Pisaner bei ihren Seefahrten kennenlernen. Die Arbeiten am Dom sind weit fortgeschritten, aber noch nicht abgeschlossen, als Papst Gelasius II. ihm die Ehre erweist und ihn im Jahre 1118 persönlich weiht. Gegen 1200 wird er fertig sein.
Ein besonderes Konzept: Turm getrennt vom Kirchenschiff
1152 erfolgt unter Leitung des geheimnisumwobenen Baumeisters Diotisalvi der Baubginn für das Baptisterium, am 9. August 1173 die Grundsteinlegung für jenes Bauwerk, das wir heute als Schiefen Turm von Pisa kennen. Denn was vielen kaum bewusst ist: Jener Campanile ist nichts Anderes als der Glockenturm des Doms. Gemäß dem damaligen architektonischen Konzept eben nicht - wie zumeist bis ins 20. Jahrhundert - direkt an das Kirchenschiff angegliedert, sondern in einiger örtlicher Entfernung als eigenständiger Bau angelegt.
Infos und Tipps
- Lage : Pisa liegt im Norden Italiens nahe seiner westlichen Mittelmeerküste. Es zählt 90.000 Einwohner. Die 40.000 Studenten stellen mehr als die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung.
- Domplatz : Im nordwestlichen Teil der Altstadt befindet sich die Piazza del Duomo (Domplatz), im Volksmund „Piazza de Miracoli“. Das hiesige Ensemble besteht aus dem Baptisterium (größte Taufkirche der Welt), dem kreuzförmigen Dom Santa Maria Assunta und seinem (schiefen) Turm, dem Campanile.
- Turm : Er ist 56 Meter hoch, hat einen Durchmesser von 15 Metern und besteht aus 14.500 Tonnen weißen Carrara-Marmors.
- Struktur : Insgesamt 273 Stufen bis zur Glockenstube. Im Erdgeschoss des Turm-Inneren gibt es eine kleine Ausstellung über die Geschichte des Bauwerks.
- Besichtigung : Um das Bauwerk vor zu großer Belastung durch zu viele Besucher zu bewahren, ist diese nur für eine begrenzte Dauer (30 Minuten) in Gruppen zu höchstens 40 Personen möglich. Voranmeldung über www.opapisa.it, bei der exakt einzuhaltende Uhrzeiten festgelegt werden. Eintritt: 20 Euro (mit Kathedrale).
- Übernachten in Pisa : NH Hotel, direkt gegenüber dem Hauptbahnhof, 4 Sterne, 100 Zimmer in modernem oder klassischem Stil, www.nh-hotels.com/de/hotel/nh-pisa.
- Anreise : Die Entfernung von Mannheim beträgt 870 km. Mit dem Auto 8,5 Stunden, per Zug (über Florenz) 12 Stunden. tin
Doch bereits zwölf Jahre nach Baubeginn, 1185, als das Werk die dritte Etage erreicht, beginnt es sich Richtung Südosten zu neigen. Ursache: Der Untergrund besteht aus lehmigem Morast und Sand, der sich unter dem Gewicht des Bauwerks verformt. Neuesten Ausgrabungen zufolge steht der Turm am Rande einer ehemaligen Insel direkt neben einem versandeten antiken Hafen.
Knapp 100 Jahre ruht der Bau. Als er fortgesetzt wird, werden die nächsten vier Stockwerke mit einem geringeren Neigungswinkel auf die bestehenden gesetzt, um die Schieflage auszugleichen; diese Krümmung ist noch heute erkennbar. 1350 beschließt man zudem, es statt der geplanten Höhe von 100 Metern bei der bis dahin erreichten Hälfte zu belassen.
Als letztes Gebäudeteil wird 1372 der Glockenstuhl vollendet. Im 15. Jahrundert erhält er aus einem dem Heiligen Ranieri gewidmeten Palast in Pisa die Gerechtigkeitsglocke; bis dahin beim Tod von Verrätern geläutet und daher in engem Zusammenhang mit dem Schicksal des legendären Grafen Ugolino.
Ugolino ist ein toskanischer Adeliger, zunächst Befehlshaber der Flotte der Stadtrepublik Pisa und ab 1287 deren Alleinherrscher. Bereits im Jahr darauf wird er von seinen Gegnern gemeinsam mit seinen beiden Söhnen und zwei Enkeln im Muda, dem Gefängnisturm der Stadt, eingekerkert, der Zellenschlüssel in den Fluss Arno geworfen und die fünfköpfige Familie dem Hungertod überlassen. Ihre Leichen werden im Kreuzgang der Kirche San Francesco verscharrt, erst 1902 exhumiert und feierlich bestattet.
Dante Alighieri verewigt Ugolinos Schicksal in seinem „Inferno“. Sein dortiger, recht doppeldeutiger Satz „Più che il dolor poté il digiuno“ (Dann war der Hunger stärker als die Trauer) greift die Legende auf, wonach der Graf als Letzter der fünf Gefangenen stirbt, nachdem er die übrigen nach deren Tod verspeist. Die Untersuchung des italienischen Archäologen Francesco Mallegni 2002 offenbart jedoch keinerlei Anzeichen von Kannibalismus.
Doch zurück zum Turm: Versuche im Mittelalter, den Bau durch Absenken des Bodens oder dünnere Mauern auf der überhängenden Seite zu retten, zeigen keine Wirkung. Die Schieflage nimmt weiter zu, wenngleich es zwischendurch auch immer wieder zu Phasen der Stillstandes oder gar der Reduzierung der Neigung kommt; der Boden arbeitet eben. Restaurierungsarbeiten im 19. Jahrhundert stoßen auf eine beachtliche Masse an Grundwasser. Mit Pumpen werden große Mengen abgesaugt, wodurch sich die Neigung aber nur verschärft.
Eine kritische Phase für das Bauwerk bringt auch der Faschismus ab 1922. Dem Diktator Mussolini ist ein Dorn im Auge, dass eines der weltweit bekanntesten Bauwerke Italiens derart dahängt; er spricht von einer „nationalen Schande“. 1934 ordnet er an, Löcher an der Basis zu bohren, um 93 Tonnen Zement zu injizieren. Doch dies zeitigt keine Besserung. Zumindest den Zweiten Weltkrieg übersteht der Turm ohne neuerliche Schäden, trotz Luftangriffen und der Explosion eines Munitionszuges im Bahnhof der Stadt.
Aus aller Welt Vorschläge zur Rettung des Bauwerks
Doch die Neigung nimmt zu. Nach dem Kriege treffen im Rathaus Rettungsvorschläge aus der ganzen Welt ein, von Fachleuten und engagierten Laien. 1960 etwa regt der Bergmann Hans Kreul aus Bottrop an, fünf Meter lange Heißdampfrohre in den Boden einzulassen, damit der Sand im nördlichen Bereich austrocknet und sich der Boden und damit der betreffende Gebäudeteil senkt.
Immer neue Expertenkommissionnen werden von der Regierung installiert, der 16. folgt 1990 die Nr. 18., weil 17 in Italien als Unglückszahl gilt. Zu diesem Zeitpunkt hat sich die Neigung des Turms gegenüber 1930 verdoppelt, auf 4,47 Meter oder 5,5 Grad. Es muss gehandelt werden. Erste Maßnahme der neuen Kommission: die Schließung des Turms für Besucher. Mit Folgen: Die Zahl der Touristen in Pisa, von denen im Jahr zuvor noch 812.000 den Turm besteigen und dabei 3,5 Millionen Euro zurücklassen, sinkt um ein Drittel.
Im Mai 1992 wird das zweite Stockwerk mit 18 Stahlreifen umgeben, da sich dort gefährliche Risse im Marmor zeigen. Im Juli 1993 lagert man auf der Nordseite des Fundamentes als Gegengewicht 600 Tonnen Bleibarren ein, wodurch die Schieflage um ein Grad verringert werden kann. 1995 werden die als störend empfundenen Gewichte durch Stahlkabel ersetzt, worauf sich die Neigung allerdings wieder erhöht. Daraufhin wird im September 1995 die höhere Seite des Fundaments erneut mit 900 Tonnen Bleibarren beschwert, was die Neigung wieder stoppt.
Auf langfristigere Maßnahmen kann sich das Komitee jedoch nicht einigen, worauf es 1996 von der italienischen Regierung aufgelöst, nach dem großen Erdbeben vom September 1997 und seinen möglichen Folgen für den Turm jedoch wieder eingesetzt wird. Im Jahr darauf verständigt sich das Expertengremium mehrheitlich auf eine neue Maßnahme, die Bodenextraktions-Methode: Dazu werden schräge Schächte von bis zu fünf Metern in den Boden unter dem nördlichen Teil des Turmes gebohrt und dadurch 50 Kubikmeter Material entfernt.
Die Aktion zeitigt Erfolg: Das Erdreich sackt langsam nach, schließlich auch der Boden des Turmes, sodass sich das Bauwerk um 40 cm nach Norden aufrichtet. Seine Gesamtneigung sinkt von 5,5 Grad vor Beginn der Sanierungsarbeiten 1990 auf 3,97 Grad. Am 15. Dezember 2001 wird der Turm wieder zur Besichtigung freigegeben. Für die nächsten 300 Jahre soll er nun gesichert sein. Mal sehen.
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