Mannheim. Es ist das Jahr 2009. Die Italienerin Antonietta Raco (67) leidet an Primärer Lateralsklerose (PLS) mit stetig fortschreitender Atem- und Gelenklähmung. Im Sommer kommt sie für eine Woche nach Lourdes, um im hiesigen Heilwasser Bäder zu nehmen. Und siehe da: In deren Folge verschwinden die Symptome, im Juli 2010 gilt sie als vollständig geheilt. Nach mehrjähriger Prüfung erkennt die Kirche dies im April 2025 als die 72. Wunderheilung von Lourdes an.
Es sind solche Ereignisse, die den Ruf von Lourdes begründen, seinen Namen sprichwörtlich machen für einen Wallfahrtsort. Nur 13.000 Einwohner stark, aber mit ebenso vielen Hotelbetten: die größte Übernachtungskapaziät Frankreichs nach Paris. Eigener Anschluss an den TGV, der vier Mal täglich verkehrt. Bis zu sechs Millionen Besucher pro Jahr. Und mehr als 200 Andenkenläden.
Das ist dem Ort nicht in die Wiege gelegt. Am Fuße der Pyrenäen auf 400 Metern Höhe, wird er von den Römern besiedelt, seine Burg mit den 1,5 Meter dicken Mauern 778 Schauplatz einer Schlacht zwischen Karl dem Großen und den Mauren. Danach mehr als tausend Jahre lang: keine besonderen Vorkommnisse.
Die tragische Kindheit der Bernadette Soubirous
Das ändert sich durch ein Mädchen: Bernadette Soubirous, geboren 1844 als Tochter eines Müllers. Der Start ins Leben ist schwierig. Ihre Mutter kann sie nicht stillen, weil sie sich bei einem häuslichen Unfall die Brüste verbrennt. Die Kleine kommt zu einer Bekannten, die ihr eigenes Kind kurz zuvor verloren hat. Die Kindersterblichkeit ist riesig. Auch von den acht jüngeren Geschwistern Bernadettes werden fünf sterben.
Erst nach zwei Jahren kehrt Bernadette heim. Als sie neun ist, geht die elterliche Mühle in Konkurs. Der Vater muss sich als Tagelöhner verdingen, die Familie ins Cachot umziehen, den früheren Kerker. In eine ehemalige Zelle, vier mal vier Meter, feucht. Die lebenslange Asthmaerkrankung Bernadettes hat hier ihren Ursprung. Und sie leidet Hunger.
Daher wird sie erneut zur früheren Amme geschickt, in deren Schänke sie jedoch schuften muss und Opfer von Übergriffen trunkener Gäste wird. Im Januar 1858 kehrt sie nach Hause zurück. Da ist sie 14 Jahre alt, aber nur 1,40 Meter groß, kann weder lesen noch schreiben. Historiker Patrick Dondelinger konstatiert einen „entwicklungspsychologischen Leidensweg“. Der in den Augen mancher erklärt, was folgt.
Gestalt in weißem Kleid mit blauer Schärpe
Am 11. Februar 1858 begibt sich Bernadette mit ihrer Schwester Antoinette und einer Freundin ans Flussufer, um Treibholz zu sammeln. Plötzlich bemerkt sie ein Geräusch und erblickt in einer Spalte des nahen Bergfelsens eine weibliche Gestalt - „eine junge und schöne Frau, die ein weißes Kleid und eine blaue Schärpe trug.“ „Habt Ihr es gesehen?“, fragt das Mädchen ihre Begleiterinnen. Doch die verneinen.
In den nächsten fünf Monaten wird sie der Gestalt noch 17 Mal begegnen. Und die sendet immer neue Botschaften aus: Beim siebten Mal bittet sie, hier eine Kapelle zu errichten, beim 13. Mal, Prozessionnen zu organisieren. Bei der neunten Begegnung rät sie Bernadette, aus der Quelle zu trinken und sich mit deren Wasser zu benetzen. Doch Bernadette sieht keine Quelle. Sie beginnt zu graben und stößt auf eine.
Infos und Tipps
Lage :Im Südwesten Frankreichs, von Mannheim aus 1.300 km.
Anreise : Per Zug Mannheim nach Paris 3 Stunden, von dort (täglich vier TGV) nach Lourdes 5 Stunden.
Heiliger Bezir k: Grotte, Krypta, Rosenkranzbasilika, Obere Basilika, unteridische Basilika St. Pie X. und Kapelle St. Bernadette.
Ort der Erscheinung : Nische im Felsen, seit 1864 markiert durch Marienstatue. Passieren trotz des Andrangs (20.000 pro Tag) ohne größere Wartezeiten, längeres Verweilen davor aber nicht möglich. Zum Gebet stattdessen wenige Meter entfernt zahlreiche Sitzbänke.
Aktivitäten : täglich Gottesdienste vor Ort in verschiedenen Sprachen, von 21 bis 22 Uhr Kerzenprozession mit abschließender Andacht vor der Basilika. Kerzen in unterschiedlicher Größe von sehr kleinen für 50 Cent bis zu 2 Metern für 500 Euro.
Heilwasser : Kostenloses Quellwasser aus Brunnen-Hähnen zum Trinken und Abfüllen, außerdem Badekuren in abgeschirmten Becken.
Heilungen : Vor allem bei Knochenkrebs, MS und TB. Nach jeweils strengem ärztlichem Prüfverfahren hat die Kirche seit 1904 72 Wunderheilungen anerkannt, zuletzt am 17. April 2025 bei der an PLS leidenden Italienerin Antonietta Raco.
Weitere historische Orte : Mühle Boly in der Altstadt. Elternhaus der Bernadette, heute Museum mit authentischer Einrichtung.
Infos : www.lourdes-france.org/de (in deutscher. Sprache). -tin
Das alles spricht sich schnell herum. Schon früh ist Bernadette daher bei den Erscheinungen nicht alleine. Bei der sechsten stehen 100 Personen im Hintergrund, bei der elften 1.000, bei der 15. schon 8.000. Doch niemand sieht etwas - außer ihr.
Die 16. Begegnung ist eine entscheidende. Bernadette fragt die Gestalt, wer sie sei, und die antwortet: Ich bin die Unbefleckte Empfängnis. Das ist insofern bedeutsam, als der Papst in Rom erst kurz zuvor diesen Beinamen verliehen hat: an die Gottesmutter Maria.
Wie kann Bernadette, des Lesens unkundig, ohne Kommunikationswege nach außen, diesen Terminus kennen? Der Ortspfarrer schließt daraus: In der Tat hat die Gestalt selbst den Begriff verwendet, ist also wahrlich die Gottesmutter. Der Bischof von Tarbes schreibt in einem Hirtenbrief: „Wir erklären feierlich, dass die Unbefleckt Empfangene Gottesmutter Maria wirklich Bernadette Soubirous erschienen ist.“
Heute würde man sagen: Um Bernadette entsteht ein Hype
So wird Bernadette zu einer internationalen Berühmtheit, das Dorf heimgesucht von Neugierigen und Gläubigen, Reportern und Kirchenoberen. Bereits im ersten Jahr kommen 30.000 Menschen nach Lourdes, für die damalige Zeit eine riesige Zahl. Bernadette wird bedrängt, soll immer wieder berichten, sieht sich peinlichen Bitten gegenüber, nach einer Haarsträhne oder einem Stück Stoff ihrer Kleidung, begegnet aber zuweilen auch Aggressivität, wenn sie diese Bitten ablehnt.
Zwei Jahre nach den Erscheinungen zieht sie daher zu Hause aus und ins Hospiz von Lourdes. „Ich bin gekommen, um mich zu verstecken“, sagt sie. Doch auch hier ist sie nicht sicher. Ein Pater dringt in die Küche ein, wirft sich zu Boden und bittet sie, ihn zu segnen. Als sie an der Einweihung der neuen Krypta oberhalb der Grotte teilnimmt, wird sie von Menschenmassen bedrängt, die sie berühren wollen. Ihre Mitschwestern müssen um sie einen schützenden Kordon bilden, Gendarmen ihr den Rückweg ins Hospiz ebnen.
Ein ruhiges Leben in Lourdes ist für sie nicht mehr möglich. Das sieht auch die Kirche so. Zumal ihre Person ablenkt vom Heiligtum. Im Juli 1866 verlässt sie Lourdes für immer, geht ins Kloster Nevers in Zentralfrankreich, arbeitet in der Krankenstation, wird selbst deren stete Patientin. Einmal ist ihre Tuberkulose so schwer, dass sie bereits die Sterbesakramente erhält. Doch sie erholt sich, wird eine der 300 Nonnen, von diesen argwöhnisch beäugt. Über ihre Erscheinungen zu sprechen, ist ihr verboten. Sie leidet an Leib und Seele, erkrankt erneut schwer. Ab März 1878 kann sie das Bett nicht mehr verlassen. Und stirbt am 16. April 1879 mit nur 35 Jahren.
Um die Grotte herum entsteht ein riesiger Wallfahrtskomplex
Zu diesem Zeitpunkt ist der Aufstieg von Lourdes als Wallfahrtsort in vollem Gange. Und nicht zu verstehen ohne die historische Situation. In jenen Jahren ist die Katholische Kirche Frankreichs, die sich noch von der Revolution von 1789 nicht erholt hat, in einer neuen Krise. Seit 1871 ist Frankreich eine Republik, und kirchenfeindliche politische Kräfte gewinnen an Boden (und werden 1905 sogar die Enteignung des Kirchenvermögens durchsetzen). Großveranstaltungen sollen zeigen, dass die Kirche nach wie vor eine Macht ist. In Lourdes beginnen regelmäßige Gottesdienste, Prozessionen, Pilgerreisen. Zu diesem Zweck wird das Dorf 1866 sogar eigens an die Bahnlinie angeschlossen.
Der Bereich um die Grotte wird sukzessive ausgebaut, auf heute 52 Hektar. Als erstes wird 1864 eine Marienstatue aufgestellt, von deren Darstellung sich Bernadette jedoch distanziert; die Frau, die sie gesehen habe, sei jünger gewesen, so jung wie sie, sagt sie. Um das Heiligtum herum werden immer neue Kapellen und Kirchen errichtet, als Höhepunkt 1871 die neugotische Basilika der Unbefleckten Empfängnis, 70 Meter hoch und 50 Meter lang.
Als alles zugebaut ist, geht man eben unter die Erde. 1956 beginnt dort der Bau der Basilika Pius X., für 25.000 Menschen. Seither kommen bis zu sechs Millionen Besucher pro Jahr, unter ihnen zwei Päpste (Johannes Paul II. und Benedikt XVI.) sowie mit Emmanuel Macron 2021 erstmals ein französischer Staatschef, bewusst inmitten von Corona.
Auch Bernadette wird Teil dieser Entwicklung. Als unschuldiges Mädchen vom Lande dient sie Ende des 19. Jahrhunderts als Kontrapunkt zu „Dekadenz und Sünde“ der neuen Zeit. Bald nach ihrem Tode 1879 beginnt das Verfahren zu ihrer Selig- und Heiligsprechung. 1909 werden die sterblichen Überreste exhumiert, 1925 Teile entnommen und als Reliquen in die Kapelle von Nevers verbracht. Papst Pius XI. spricht Bernadette 1925 selig und 1933 heilig.
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