Hybris beschreibt seit der Antike die menschliche Selbstüberschätzung und ist bezeichnend für übertriebenes Selbstvertrauen, übertriebenen Stolz, Arroganz und maßlose Überheblichkeit. Sie kann mit mangelndem Wissen oder Interesse an der Geschichte verbunden sein, aber auch mit Beschämung oder Verachtung anderer. Nemesis ist die Göttin der Vergeltung und bezeichnet die Zerstörung, das Leiden oder die Strafe, die im Gefolge von Hybris eintreten können.
Die moralische Lehre aus der Hybris-Nemesis-Dynamik ist, dass Demut und Respekt vor den Grenzen des Möglichen wichtig sind. Es erinnert uns daran, dass wir nicht über unsere Verhältnisse leben oder uns über andere erheben sollten. In vielen Geschichten kommt Nemesis ins Spiel, um das Gleichgewicht wiederherzustellen, wenn jemand über die Stränge schlägt. Dies lässt sich in vielen Kontexten der modernen Gesellschaft beobachten, sei es in der Wirtschaft, im politischen Umfeld oder im persönlichen Leben.
Beleuchtet man nun unter diesem Aspekt, gerade in den Tagen und Wochen vor anstehenden Wahlen, die strategischen Kampagnen der Parteigranden, so muss man konstatieren, dass sich die Parteiverantwortlichen gegenseitig mit vollmundigen Versprechen überbieten und alle beanspruchen natürlich für sich, das bessere Konzept für die Zukunft des Landes zu haben. Wie glaubwürdig sind aber diese Versprechen, wenn man sich die jüngsten Äußerungen der jeweiligen Protagonisten vor Augen führt? Betrachtet man die derzeitigen Plenarsitzungen im Deutschen Bundestag, so muss man feststellen, dass es offensichtlich nur noch von beleidigenden und respektlosen Verbalattacken geprägte Debatten gibt. Bedenkenlos werden Beschimpfungen, Diskriminierungen, Diffamierungen und Lügenbezichtigungen abgefeuert, ohne Rücksicht auf Integrität und persönliche Befindlichkeiten. Das ist nichts anderes als verbal ausgeübte Gewalt, die darauf abzielt, den Adressaten zu erniedrigen, herabzusetzen oder zu verängstigen. Glaubwürdigkeit und Vertrauen erreicht man auf diese Weise sicherlich nicht, im Gegenteil. Besser wäre hier der hermeneutische Ansatz, indem man sachliche Erklärungen präferiert, um subjektives Sinnverstehen zu erreichen, denn es ist schon sehr beunruhigend zur Kenntnis nehmen zu müssen, wie dieselben Personen, die bisher in ihren verantwortungsvollen und entscheidungskompetenten Funktionen nicht in der Lage waren, zukunftsweisende, bürgernahe und problemlösende Politik zu machen, sich jetzt als Problemlöser und wahre Retter der Demokratie dargestellt sehen wollen. Ernsthafte Zweifel an deren Demokratieverständnis sind mehr als angebracht, was auch die gegenseitig vorgeworfenen Schuldzuweisungen und Wortbrüche nachhaltig unterstreichen. Bedauerlich daran ist nur, dass ein nachhaltig einfließender, historischer Erkenntnisgewinn definitiv fehlt, stattdessen wird ein stures und egomanes „weiter so“ gepflegt, denn Fehler machen ja immer nur die anderen.
In unserer globalisierten Welt, wo mittlerweile alles mit allem verbunden ist und grenzenlos gegenseitige Abhängigkeiten bestehen, müssen egozentrisch geprägte, nationale Interessen zurückstehen und altruistische Werte wieder in den Fokus treten, zumal Globalisierung mittlerweile ein komplexes Phänomen ist, das die Weltwirtschaft, Kultur, Politik und Gesellschaft in vielerlei Hinsicht beeinflusst. Sie beschreibt den Prozess, durch den Länder und Menschen weltweit enger miteinander verbunden werden, insbesondere durch den Austausch von Waren, Dienstleistungen, Informationen und Ideen, wodurch eine zunehmende Vernetzung und gegenseitige Abhängigkeit von Völkern und Ländern entsteht, sie ist ein irreversibler Prozess und keine Option.
Doch leider sind die demokratischen Strukturen anfällig und zu allem Bedauern weltweit rückläufig und ein Wandel hin zu Autokratien unübersehbar. Freiheitliche Grundordnungen sind überall dort in Gefahr wo radikale und extreme Kräfte, ob von rechts oder von links, in Machtpositionen kommen. Das pekuniäre Kräftemessen strahlt mittlerweile unübersehbar in alle gesellschaftlichen Schichten und Strukturen, was die vielen Engagements und die immense Einflussnahme von Millionären und Milliardären, speziell in Wahlkampfzeiten widerspiegeln. Geld bedeutet Macht und Macht bedeutet Einfluss und Einfluss bedeutet Entscheidungskompetenz und Entscheidungskompetenz bedeutet Eigeninteressen durchsetzen zu können, um gruppenspezifische Interessen und fragwürdige Ideologien zu manifestieren. Deshalb sind kritisches Denken und eine informierte Öffentlichkeit entscheidend, um sicherzustellen, dass solche Einflüsse nicht unreflektiert bleiben und dass ethische Überlegungen in die Entscheidungsprozesse einfließen, denn ansonsten übernehmen die Einfluss nehmenden Lobbyisten und geldgetriebene Oligarchen haben das Sagen, während die gewählten Volksvertreter nur noch Steigbügelhalter macht- und geldgieriger Emporkömmlinge sind.
Wie glaubwürdig also können Verantwortliche in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft überhaupt noch sein, wenn je nach Stimmungslage und Umfragewerten die geäußerten Versprechen revidiert werden und das Gemeinwohl nur noch eine untergeordnete Rolle spielt und die berechtigten Bürgerinteressen unberücksichtigt bleiben. Wahlverdrossenheit macht sich breit und Nicht- , Gelegenheits- und Protestwähler bestimmen letztlich das Wahlergebnis und als Bürger bleibt man nur noch ratlos zurück.
Mein dringender Appell daher: Die Möglichkeit wählen zu können, auf jeden Fall nutzen, auch wenn einem das Ergebnis schlussendlich nicht gefallen sollte, denn das Privileg, frei wählen zu können, ist ein hohes und hart erkämpftes Gut, das wir nicht leichtfertig herschenken dürfen.
Das Leben kann nur verstanden werden, wenn man nicht geschichtsvergessen agiert und deshalb wünsche ich mir von den Politikverantwortlichen, dass sie die Anliegen der Bürger mit der gebotenen Ernsthaftigkeit in ihre Entscheidungsprozesse miteinbeziehen und das nervige Herumlavieren mit abgedroschenen Floskeln und hohlen Phrasen sowie falschen Versprechungen unterlassen. Die Erwartungshaltung, dass die Volksvertreter auf jeden Fall auch nach rechts und links schauen und nicht wegen Halsstarre den Rundum- und Weitblick verlieren und demzufolge im Einbahnstraßendenken verharren, ist selbstredend.
Begegnen wir uns also gegenseitig wieder auf Augenhöhe, als Menschen mit Empathie und mit dem gebotenen Respekt und nicht als zu bekämpfende, feindbildbehaftete Gegner, mit respektlosem und sinnentleertem, martialischen Vokabular.
„Wahre Worte sind nicht immer schön. Schöne Worte sind nicht immer wahr.“ (Lao-Tse)
Gerhard Kiermeier, Hockenheim
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