Stadthalle

Hagen Rether mit kritischem Rundumschlag in der Stadthalle Hockenheim

Runde 200 Minuten wäscht Hagen Rethner seinem Publikum in der Hockenheimer Stadthalle den Kopf, reißt rosarote Brillen runter und stochert zielsicher und wortstark genau da, wo es am meisten wehtut. Kompromisslos. Gnadenlos.  

Von 
Matthias H. Werner
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Ein Mann, ein Flügel, zwei Bananen und über drei Stunden Programm: Hagen Rether liebt das lange Format. © Norbert Lenhardt

Hockenheim. „Ich bin so froh, dass ich nicht so ein lustiges Programm habe. Ich hab mich nie als Kabarettist verstanden – eher als Trauerberater. Jetzt hab ich Sie 20 Jahre getröstet und bin selbst untröstlich.“ Mit ein paar gedrechselten Worten beendet der Essener Kabarettist und Realitätsphilosoph Hagen Rether am Sonntagabend nach wenigen Minuten eine Art Warm-up, nur um naht- und kommentarlos zu dem überzugehen, wofür der aus Siebenbürgen stammende Mittfünfziger von seinen Fans geliebt und von seinen Feinden gefürchtet wird: Runde 200 Minuten wäscht er anschließend seinem Publikum in der Hockenheimer Stadthalle den Kopf, reißt reihenweise rosarote Brillen runter und stochert zielsicher und wortstark genau da, wo es am meisten wehtut. Kompromisslos. Gnadenlos.

Seit zwei Dekaden versteckt der hemmungslose Freigeist seine tagesaktuell angepasste Generaldebatte hinter dem Programmtitel „Liebe“ – und tatsächlich ist der nicht nur kritische, sondern völlig rücksichtslose Rundumschlag ein Liebesdienst an der Gesellschaft, die blumige Worte misszuverstehen pflegt.

Hagen Rether in Hockenheim: Von wegen nur „die anderen“

Dabei meint „Rundumschlag“ keinesfalls das in vielen Kabarettprogrammen zelebrierte Einhauen auf „die anderen“. Rether zeigt nicht auf Politiker, er belässt es nicht bei Schelte, gönnt seinen Zuhörern keine Sekunde lang den Luxus, sich nicht selbst getroffen zu fühlen.

Er liest einem ganzen Volk die Leviten, das sich „wie gekränkte Monarchisten“ aufführt, „die den ganzen Tag den König anfurzen, sich aber in der Untertanenrolle gemütlich eingerichtet haben“ – „das ist eine Gesellschaft mit maximaler Freiheit und ohne Verantwortung. Wie soll eine Frau Merkel das glattziehen, was 82 Millionen Wildsäue das ganze Jahr umgraben?“ Letztlich, so wird er viel später konstatieren, „geht es nur um die kleine Differenz zwischen Katzendarm und Paganini“.

Hagen Rether in Hockenheim: Jeder Satz landet in Magengrube

Dabei sitzt bei dem charismatischen Pferdeschwanzträger jeder Satz als sauber zentrierter Schlag in die Magengrube – scharfzüngige, perfekt gesetzte Worte, die umso tiefer gehen, als er sie in eine anscheinend so lockere Plauderei verpackt. Ein behender Schwenk zur Fußball-WM – und dann ein satt schmerzendes „Vierzigtausend Kilometer hat ’ne Jeans hinter sich vom Strauch bis in unseren Schrank – kriegen wir noch was mit? Wir regen uns über Katar auf. Alles ist Katar.“

Bei seinen ausnahmslos sauber analysierenden Schlussfolgerungen gibt es kein Entkommen, keine Ausrede, nicht einmal den Hauch einer Entschuldigung. „Die Bevölkerung versteckt sich immer hinter den Opfern, die nicht gemeint sind. Verzichten müssten nicht die Sozialhilfeempfänger, sondern wir anderen.“ Bäng.

„Unser Wohlstand steht auf Leichenbergen“ leitet Rether ein, setzt – als bekennender Veganer – mit einem „Hey, Indianer, dein Regenwald ist mein Schweinefutter“ nach und drischt dann die gesamte Ausbeutungsgeschichte unserer Republik ins Publikum, ein kurzer gedanklicher Schlenker zum „Wahnsinn, wie dieser linke Mainstream uns im Griff hat: Google, Amazon, Apple“, um fast schon lapidar zusammenzufassen: „Die Mittelschicht hat panische Angst vor dem Abstieg – und jetzt frisst sich die Armut nach oben.“

Mit seinem topaktuellen Dauerbrennerprogramm fährt Rether hart am Limit in einer Umwelt, in der Veränderung Sünde ist: „Postwachstumsgesellschaft, Cradle to Dradle, solidarische Landwirtschaft – cool. Aber Aktien haben wir bei Rheinmetall.“ Dabei ist für Selbstkritik kein Platz: „Man enthauptet lieber den Mahner.“

Hagen Rether in Hockenheim: Schule bis Klima - alles versemmelt

Ein solcher aber bleibt Hagen Rether mit jedem Satz. „Dass wir überhaupt Frauenhäuser brauchen, ist beschämend für unser Land“, in dem „keiner mehr Bürgermeister werden will, weil er Angst hat, dass er dann nur noch Fackelträger im Garten hat.“ Er holt aus, zielt und trifft: „Uns quillt der Wohlstand aus allen Ecken und wir haben so ’ne Fresse: Ändert sich ja eh nix!“

Tatsächlich könnte man Furcht bekommen bei der düsteren Analyse des genialen Geistes. Digitalisierung, Schulen, Klima: Alles versemmelt und statt Konsequenz das „Kind“ Gesellschaft lieber ohne Zähneputzen ins Bett geschickt. „Nach 16 Jahren Mutti haben wir jetzt Zähne im Gesicht wie Dresden ’45 und alle Zähne müssen gleichzeitig gemacht werden – das wird wehtun“.

Gegen Ende seines über dreistündigen hochgeistigen Höllenritts „lässt sich alles zusammendampfen auf eine Binse: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es“. Unser Glück, dass Rethers Auswanderungspläne immer an derselben Stelle enden: „Aber wohin?“ Gemeinsam ratlos sein ist doch auch mal schön!

Um sich dann mit einer fast schon idyllischen Fantasie von einem in stehenden Ovationen rundum begeisterten Publikum zu verabschieden: „Können wir uns das vorstellen? Weil, wenn wir uns das nicht vorstellen können, dann sind wir verloren.“

Freier Autor Seit Mitte der 1990er Jahre als freier Journalist vorrangig für die Region Hockenheim/Schwetzingen tätig - Fachbereich: Kultur.

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