Hockenheim. Die Stadthalle Hockenheim war fast bis auf den letzten Platz gefüllt. Rund 200 Gäste folgten der Einladung von Oberbürgermeister Marcus Zeitler zum Unternehmensempfang. Die Stimmung war gut – nicht zuletzt dank der Band Wörner Cocktail, die zu Beginn mit „All Night Long“ für die passende Atmosphäre sorgte. Doch der Abend bot mehr als Musik und Häppchen: Mit Prof. Dr. Jhy-Wey Shieh, Leiter der Taipeh-Vertretung in Deutschland, verlieh ein hochkarätiger Gastredner der Veranstaltung internationales Gewicht. Er nahm die Zuhörer mit in die politische und wirtschaftliche Realität Taiwans.
Oberbürgermeister Zeitler eröffnete den Abend mit deutlichen Worten zur wirtschaftlichen Lage in Hockenheim und der Rhein-Neckar-Region. Die Haushaltssituation sei alarmierend: „Wenn ein solcher Minushaushalt in diesem Land noch genehmigt wird, dann muss ich mich als Bürgermeister fragen, ob in diesem Land eigentlich alles noch richtig läuft“, stellte Zeitler mit Blick auf das überraschend abgesegnete Defizit von über 10 Millionen Euro fest.
Sorge um freiwillige kommunale Leistungen
Auf den ersten Blick könnte man denken, die finanzielle Lage sei gar nicht so schlecht – schließlich sind die Gewerbesteuereinnahmen in den letzten Jahren gestiegen. Doch genau hier liege das Problem: Die Stadt Hockenheim muss den Großteil dieser Einnahmen an Land und Bund abführen. Zeitler verdeutlichte die Problematik anhand konkreter Zahlen: „Die Einnahmen von 2023, über 27 Millionen Euro, mussten dieses Jahr zu 75 Prozent an Land und Bund abgegeben werden. Das sind 20 Millionen Euro.“ Der Stadt selbst bliebe also nur ein kleiner Teil der erwirtschafteten Mittel und dieser reiche längst nicht aus, um wichtige kommunale Projekte zu finanzieren.
Besonders betroffen seien freiwillige kommunale Leistungen wie Schwimmbäder, Bibliotheken oder Sportanlagen. Das Aquadrom etwa verursache jährlich ein Defizit von 4 Millionen Euro. Dennoch wolle Zeitler an solchen Angeboten festhalten: „Unsere Kinder müssen schwimmen lernen. Viele Familien können sich keinen Sommerurlaub leisten und sind froh, das Schwimmbad nutzen zu können.“ Doch die Finanzierung werde immer schwieriger – trotz steigender Einnahmen.
Haubenlerche fühlt sich in Hockenheim einfach zu wohl
Die Bürokratie belaste Unternehmen und Gemeinde zusätzlich. Zeitler nannte das Beispiel des Gewerbegebiets Mörscher Weg, dessen Erschließung seit 2020 am Schutz der Haubenlerche scheitere. „Wohlstand muss man erarbeiten“, mahnte Zeitler. Sein Kommentar, man möge die Haubenlerche doch nach Reilingen oder Neulußheim schicken, sorgte für Lacher – und spiegelte gleichzeitig die Frustration vieler Unternehmer.
Ein weiteres Problem sei der Fachkräftemangel. Viele Bewerber erschienen nicht zu Vorstellungsgesprächen oder sagten kurz vor Arbeitsbeginn ab. Die Integration von Geflüchteten verlaufe schleppend. „Aber wir lassen niemanden allein“, betonte Zeitler und verwies auf die Unterstützung durch Petra Grabs und Donald Pape-Rese.
Nach diesen ernsten Themen stellt der OB noch ein kleines Highlight vor: den Brogent Formel-1-Simulator aus Taiwan, der am Hockenheimring für Veranstaltungen gebucht werden könne. Mit modernster Technik und realistischem Cockpit-Design schafft er eine realistische Fahrerfahrung. „Das wird Ihnen die Schweißperlen auf die Stirn treiben“, scherzte Zeitler und leitete elegant zum Hauptredner über. Der Simulator stehe nämlich stellvertretend für die Innovationskraft Taiwans.
Taiwan zwischen Bedrohung und Selbstbehauptung
Nach dem beeindruckenden Imagefilm von Taiwan, der die Vielseitigkeit des Landes, seiner Natur und Kultur zeigte, trat Prof. Dr. Jhy-Wey Shieh auf die Bühne. Er bedankte sich bei Olav Gutting, der ihn bereits 2019 nach Hockenheim eingeladen hatte – doch die Covid-Pandemie machte dem Plan damals einen Strich durch die Rechnung. 2023 durfte sich Shieh dann auf die letzte freie Seite im Goldenen Buch der Stadt Hockenheim eintragen. „Vielen Dank, Herr Olav Gutting. Gut Ding will Weile haben“, sagte Shieh mit einem Augenzwinkern – die Zuhörer quittierten die Anspielung mit herzhaftem Lachen.
Dann wurde es ernst. Shieh sprach über die wachsende militärische Bedrohung durch China. Während Taiwan 2024 mit der EU den Bau der Chipfabrik ESMC in Dresden feierte, kreisten 45 chinesische Militärflugzeuge und neun Kriegsschiffe nahe der Taiwanstraße. Taiwan verfüge nur über fünf U-Boote, von denen vier über 40 Jahre alt seien. Das 2023 selbst gebaute U-Boot „Hai Kun“ sei ein wichtiger Schritt, doch China modernisiere seine Flotte kontinuierlich. Trotz der ernsten Lage bewahrte Shieh seinen Humor: „Würde das in der ,Bild‘ stehen, hieße es wohl: ‚Taiwan baut U-Boote, um sich über Wasser zu halten. ‚“ Das Publikum schmunzelte, doch die Botschaft war klar.
Kampf um Freiheit und Anerkennung
Die politische Realität Taiwans – die Gratwanderung zwischen Demokratie und der ständigen Bedrohung durch China – war vielen Zuhörern bis dahin nicht bewusst. Und genau hier knüpfte Shieh mit persönlichen Erlebnissen und Anekdoten an. „Ich kam 1982 nach Deutschland und habe den Unterschied zwischen einer Diktatur und einer Demokratie selbst erlebt“, erzählte Shieh. Er erinnerte daran, dass Taiwan bis 1987 unter Kriegsherrschaft regiert wurde. Jahrzehntelang wurden Meinungsfreiheit und politische Beteiligung unterdrückt.
Erst mit der Aufhebung des Kriegsrechts begann die Demokratisierung des Landes. „Seit 1987 ist es uns so wichtig, unsere Redefreiheit zu behalten. Und die werden wir nicht mehr abgeben“, sagte Shieh bestimmt. Mit einem Lächeln fügte er hinzu: „Ich habe dieser Redefreiheit sogar einen deutschen Namen gegeben – die ‚Leberwurst-Redefreiheit‘. Wir reden frei von der Leber weg.“ Erneut brachte er das Publikum zum Lachen.
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Er erklärte später, dass Taiwan zwar ein demokratisches Land sei, aber keine offiziell anerkannte Souveränität besitze. Die meisten Staaten der Welt – auch Deutschland – erkennen Taiwan nicht als eigenständigen Staat an, um die Beziehungen zu China nicht zu gefährden. „Deshalb bin ich auch kein Botschafter, sondern nur der Leiter der Taipeh-Vertretung“, so Shieh.
Ohne Technologie aus Taiwan keine deutschen Autos
Die globale Bedeutung Taiwans illustrierte Shieh anhand der Halbleiterindustrie. Taiwan sei der größte Produzent von Mikrochips, die Smartphones, Autos und moderne Technologien antreiben. Eine Journalistin habe einen Mercedes-Sprecher gefragt, welches Bauteil ohne taiwanesische Chips noch funktioniere. Die Antwort: das Warndreieck. Doch selbst das sei fraglich, meinte Shieh: „Ohne unsere Chips könnten Sie wohl nicht mal den Kofferraum öffnen.“ Auch die Rolle der USA sprach er an: „Was sich mit einer Rückkehr von Donald Trump ändern würde? Keine Ahnung. Aber eines ist sicher: Make America great again – not without Taiwan.“
Ein Empfang mit bleibendem Eindruck
Shieh gelang der Balanceakt zwischen Humor und Ernsthaftigkeit meisterhaft. Er brachte die komplexen Zusammenhänge der politischen und wirtschaftlichen Situation Taiwans auf den Punkt – mit Charme, Klarheit und Tiefgang. Der musikalische Ausklang von Wörner Cocktail sorgte für ausgelassene Stimmung, bevor die Gäste beim Stehempfang die Gelegenheit hatten, sich über die Themen des Abends auszutauschen.
Die wirtschaftlichen Herausforderungen Hockenheims, die geopolitische Lage Taiwans und die Bedeutung der Halbleiterindustrie – der Abend hinterließ viele Denkanstöße. Die Unternehmer zeigten sich beeindruckt von Shiehs Vortrag. Und wer weiß – vielleicht zeigt sich sogar die Haubenlerche bald kooperativ und gibt das Gewerbegebiet am Mörscher Weg dauerhaft frei.
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