Hockenheim. Für Birgit Pfisterer und Benjamin Weis mit Tochter Lina stieg Anfang September die Spannung. Denn nachdem der Kindergartenplatzwunsch im Anmeldesystem rechtzeitig eingestellt worden und die Eingangsbestätigung herausgegangen war, hörte die Familie lange nichts – auch nicht am 1. September, dem Tag sechs Monate vor dem erhofften Kindergartenstart. Etwa zehn Tage später wurde per E-Mail die Bearbeitung mitgeteilt, bald folgten Absagen aus dem Südstadtkindergarten sowie dem Bossert-Kindergarten und damit die große Ernüchterung.
Letzterer sagte komplett ab, im Wunschkindergarten beim Pumpwerk landete Lina immerhin auf der Warteliste. Mit der Absage aus dem Kindergarten Albert-Einstein-Straße, der aus Personalmangel erst später Rückmeldung geben konnte, wurde die Hoffnung auf einen Kindergartenstart im März schließlich vorerst zunichte gemacht, auch hier wurde ein Platz auf der Warteliste für Lina angeboten.
Vorerst nur Absagen gab es auch für Ella Göler von Ravensburg, adressiert an Mama Lisa, aus allen drei Wunscheinrichtungen. Einzig im Friedrich-Fröbel-Kindergarten besteht dank Warteliste Aussicht auf einen Kindergartenplatz – ab September 2023. Dabei wird Ella bereits im April drei Jahre alt und sollte dann von der Tagesmutter in den Kindergarten wechseln.
Lisa Göler von Ravensburg hat eigentlich einen Ganztagesplatz als Wunsch angegeben und sagt inzwischen „ich nehm’, was ich kriege“, auch wenn eine kürzere Betreuungszeit bedingt durch die An- und Abreise zum Arbeitsplatz in Heidelberg für Stress sorgen könnte. Beiden Familien fehlt vor allem die Sicherheit und die Gewissheit, zum notwendigen Zeitpunkt das Kind versorgt zu wissen.
Um die geht es auch Sabrina Weber, die ihren Sohn Till ab März 2023 im Rahmen der verlängerten Öffnungszeiten in einem von drei Wunschkindergärten unterbringen wollte – auch, weil das familiäre Netzwerk die Betreuung nicht weiterhin so umfassend leisten kann wie bisher. In zwei Einrichtungen gibt es jedoch im Frühjahr und auch zu einem späteren Zeitpunkt keinen freien Platz für Till, sodass die Mutter eine Absage erhielt, im Friedrich-Fröbel-Kindergarten steht der dann dreieinhalbjährige Till auf der Warteliste für September. Nachdem bei einem Besuch im November vergangenen Jahres noch alle Zeichen auf Grün gestanden hatten, habe sich die Lage nun wohl deutlich verschärft.
Presseanfrage wird Chefsache
Die Presseanfrage macht Oberbürgermeister Marcus Zeitler zur Chefsache, außerdem wird die Thematik in einer Sitzung des Ausschusses für Soziales, Jugend, Kultur und Sport erörtert. Marcus Zeitler bestätigt, dass die aktuelle Situation „im Kindertagesbereich sehr angespannt“ sei und gibt, wenn auch ohne Nennung konkreter Zahlen, zu: „Es ist nicht immer möglich, zu den gewünschten Aufnahmedaten einen Betreuungsplatz anzubieten.“ Im Krippenbereich sei „für 2022 jedes Kind versorgt“ und im Waldkindergarten gebe es aktuell noch freie Plätze.
Dass die drei Familien in Hockenheim mit ihrer Situation jedoch momentan nicht alleine sind, bestätigte sich sowohl im Gespräch im näheren Umfeld als auch bei einer Facebook-Diskussion. Dabei scheint es durchaus nicht nur an den anspruchsvollen Wünschen der Eltern zu liegen, denn auch wenn Birgit Pfisterer und Benjamin Weis weiterhin auf einen Ganztagesplatz und ein wohnortnahes Unterkommen hoffen („da können wir Lina zu Fuß hinbringen und es besteht die Möglichkeit, dass die Kinder später gemeinsam zur Schule gehen“), zeigen sie sich kompromissbereit: „Wir wären prinzipiell für alle Einrichtungen in Hockenheim offen.“
Tatsächlich wurde zumindest dieser einen Familie – nachdem sie ihren Unmut via Facebook öffentlich kundgetan hatte – inzwischen ein Angebot unterbreitet: Lina kann im Waldkindergarten unterkommen. Gleichzeitig bleibt die Hoffnung, bald in eine Einrichtung mit Ganztagesbetrieb wechseln zu können.
Bei Ablehnung erlischt Anspruch
Denn tatsächlich kann und muss die Stadt Hockenheim Wünschen nicht immer nachkommen, die Entscheidung, einen Platz anzunehmen oder abzulehnen, hat für die Eltern jedoch Folgen: „Sind die Kapazitäten einer Einrichtung erschöpft, wird ein Platz in einer anderen Einrichtung angeboten. Wenn dieser den Eltern nicht zusagt und sie diesen ablehnen, wird der Platz an ein anderes Kind vergeben. Der Anspruch der Eltern, welche den Platz abgelehnt haben, erlischt somit. Im Klartext: Wer einen Platz in einer Einrichtung ablehnt, kann sich nicht beschweren, dass er keinen Platz bekommt. Dies ist schlichtweg falsch“, heißt es vom Oberbürgermeister höchstpersönlich.
Markus Zeitler macht deutlich, „dass es keinen gesetzlichen Anspruch auf einen Ganztagesplatz und auf eine bestimmte Einrichtung gibt. Der Rechtsanspruch bezieht sich auf eine Sechs-Stunden-Betreuung in einer unserer Einrichtungen. Wenn jemand einen Platz in einer Einrichtung von uns angeboten bekommt, und diesen ablehnt, hat er seinen Anspruch verwirkt. Dies ist keine Erfindung von Hockenheim, sondern klar gesetzlich geregelt.“ Ablehnungen gibt es dabei nicht nur wegen des Stundenumfangs, sondern auch wegen der Einrichtung an sich, berichtet Marcus Zeitler und bedauert, dass „Eltern leider viel zu oft einen Platz ablehnen, wenn es nicht der gewünschte ist“.
Den Wunsch nach einem Ganztagesplatz hat Sabrina Weber nicht erhoben, mit sechs Stunden wäre sie vollkommen zufrieden und dennoch geht die Familie vorerst leer aus. Bisher wurde ihr Sohn von den Großeltern betreut, während sie selbst seit Juli 2021 wieder ihrer Beschäftigung in der Personalabteilung der GRN Gesundheitszentren in Schwetzingen mit 61 Prozent nachgeht und der Papa Vollzeit in Mannheim arbeitet.
Eine Fortführung der Betreuung in diesem Umfang wird auf Dauer nicht möglich sein, verschiedene gesundheitliche Aspekte in der Familie stehen dem entgegen. „Wir hätten es geschafft, bis zum Frühjahr noch zu überbrücken. Meine Stunden kann und will ich nicht reduzieren oder meinen Job gar kündigen. Wir haben im letzten Jahr ein Haus gekauft und saniert und sind finanziell auf zwei Gehälter angewiesen“, erklärt Weber, dass es auch existenzielle Fragen sind, die Tills Eltern rund um den Kindergartenstart beschäftigen und die Sache immer mehr zur dringlichen Angelegenheit machen.
Die Kontaktaufnahme mit den einzelnen Einrichtungen änderte nichts an der Situation, die Suche nach einer Tagesmutter blieb mangels Plätzen ebenso wie bei Birgit Pfisterer erfolglos – sowohl innerhalb als auch außerhalb von Hockenheim. Sollte eine Betreuung bei einer Tagesmutter zudem nicht bis zum Kindergartenstart bezuschusst werden, müsste die Familie monatlich knapp 1100 Euro aufbringen, um die Kosten aus eigener Tasche zu decken. Zumal die junge Familie eine solche Übergangslösung mit ungutem Gefühl entgegengesehen hätte: „Es ist auch nicht unser Ziel, dass wir unseren Sohn jetzt eingewöhnen, damit er dann im Spätjahr wieder woanders eingewöhnt werden muss, oder ihn generell in einer völlig anderen Gemeinde in den Kindergarten zu bringen. Was das Hin und Her mit den Kindern macht, fragt niemand“, sagt Sabrina Weber.
Klage keine Option
Sabrina Weber sieht zudem mit drei Jahren den Zeitpunkt als gekommen an, an dem pädagogische Förderung und neue Kontakte für die Entwicklung notwendig werden. „Meinem Kind werden wichtige Erfahrungen vorenthalten“, kritisiert sie die schwierige Situation, die Umsetzung des Betreuungsanspruchs durch die Länder mache sie wütend und traurig. Den Tipp, mit dem Anwalt zu drohen oder gar tatsächlich zu klagen, mochten Linas Eltern ungerne in die Tat umsetzen. „Wer will schon sein Kind in den Kindergarten klagen?“, hinterlässt dieser Gedanke bei Benjamin Weis ein ungutes Gefühl.
Doch auch die Kontaktaufnahme zu einem Abgeordneten brachte den Vater nicht weiter. Tills Mutter wurde die Klage sogar vom Jugendamt ans Herz gelegt, doch auch sie verspricht sich davon wenig: „Wenn es angeblich keine Plätze gibt, kann ich ja auch keinen einklagen.“ Eine Klage auf Entgeltersatz würde möglicherweise mit dem Verlust des Jobs einhergehen. In dem gibt es bereits Absprachen für Änderungen in den Arbeitszeiten ab März und die könnten zum Problem werden, sollte sich keine außerfamiliäre Betreuungsmöglichkeit für Till finden.
Immerhin wäre es Ellas Tagesmutter aktuell noch möglich, Ella länger zu betreuen. Doch ob die Betreuung damit bis zum Kindergarteneintritt gesichert wäre und finanziert werden würde, ist unklar. Die Stadt – beziehungsweise den Angaben Marcus Zeitlers zufolge das Landratsamt – würde zwar eine entsprechende Bescheinigung ausstellen, die eine Bezuschussung durch das Jugendamt über den dritten Geburtstag hinaus möglich macht, doch normalerweise ist diese Möglichkeit auf drei Monate befristet.
Darüber hinaus dürfte auch für Tagespflegepersonen Planungssicherheit wichtig sein, die durch einen kurzfristig erhaltenen Kindergartenplatz ins Wanken gerät und gleichzeitig können jüngere Kinder erst später nachrücken.
Entwicklung kaum vorhersehbar
„Es ist uns leider nicht möglich, im Vorfeld zu ermitteln, wer von wo nach Hockenheim zieht und wie viele Kinder mitbringt. Auch ist es uns nicht möglich, im Vorfeld zu ermitteln, wie viele Kinder aus der aktuellen Flüchtlingskrise heraus unterzubringen sind. Auch ist es uns nicht möglich und erlaubt, eine Umfrage zu machen, wer in den nächsten Monaten schwanger wird und somit dann einen Kindergartenplatz benötigt“, nennt der Oberbürgermeister neben der Vorverlegung des Einschulungsstichtages, die länger im Kindergarten bleibende Kinder mit sich bringt, Unwägbarkeiten, die die Vorausplanung erschweren.
Dass der Bedarf tatsächlich so schwer abzuschätzen sein soll, erschließt sich Birgit Pfisterer und Lisa Göler von Ravensburg nicht. Bis zu eineinhalb Jahre vorher könne das Kind im Zentralen Anmeldesystem eingetragen werden und zudem sei der Zeitpunkt der Geburt bekannt.
„Wir bringen unsere Kinder einfach morgens ins Rathaus“, zeigt Lisa Göler von Ravensburg daher etwas Galgenhumor zur Lösung des Problems. Doch eigentlich sind sich die beiden Mütter einig: „Unterm Strich wäre zu wünschen, die Stadt tut was, damit es nicht jedes Jahr das gleiche Problem gibt“, als Ursache für den scheinbar schon länger bestehenden und weiterhin nicht behobenen Mangel vermuten sie die „Angst vor leeren Plätzen“.
Gehen Frühjahrskinder leer aus?
Die dazu passende Information aus einer Einrichtung, dass diese bis November voll sein müsse, führt bei Sabrina Weber zu einer ernüchternden Erkenntnis: „Das Problem ist somit meiner Meinung nach seitens der Stadt hausgemacht. Kinder, die im Frühjahr geboren sind, müssen grundsätzlich in die Röhre schauen und erhalten Plätze erst sechs Monate später!“ Am Telefon habe sie zudem eine patzige Antwort erhalten, dass sie dann „halt nach Oftersheim oder Neulußheim ziehen“ hätte müssen – dabei wohnt die Familie bereits seit 2014 in Hockenheim.
„Egal, wie es kommt, wir brauchen bis zum Jahresende eine Lösung“, dachte Birgit Pfisterer bereits über sämtliche Notlösungen nach, die sie als Eltern hätten ergreifen können und die eine gewisse Vorlaufzeit brauchen. Während sie selbst ihre Elternzeit bis März aufgebraucht haben wird, hat ihr Partner zwar noch Elternzeit übrig, aufgrund bereits dreier in Anspruch genommener Abschnitte hätte jedoch in den Sternen gestanden, ob ein weiterer Antrag genehmigt werden würde, und der müsste zudem knapp drei Monate vor Antritt gestellt werden.
Je nach Betreuungsumfang hätte Birgit Pfisterer selbst entweder einen Teilzeitantrag stellen oder gar ihre Stelle mit dreimonatiger Frist zum Quartalsende kündigen können. Dabei wollte die Mutter und Personalreferentin bei einer Industriefirma im Talhaus eigentlich mehr arbeiten, weshalb die Familie auch auf der Suche nach einem Ganztagesplatz war. Ihren Wunsch „Gebt mir irgendwas“ hat Birgit Pfisterer von der Stadt inzwischen erfüllt bekommen, ohne dabei jemand anderem einen Platz wegzunehmen, wie Birgit Pfisterer ebenfalls hoffte: „Ich will nicht, dass jemand anderes leidet.“
Was den Wunsch nach einer ausreichenden Platzanzahl für alle angeht, macht Marcus Zeitler Hoffnung, wenn er mitteilt, „dass wir einen Neubau im Planansatz für die kommenden Haushaltsjahre vorgesehen haben, vorbehaltlich natürlich der Haushaltszustimmung durch den Gemeinderat und das Regierungspräsidium“.
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