Hockenheim. Die Kurpfalz war stets eine Einwanderungsgesellschaft. Ohne Migration würde die Metropolregion kulturell und wirtschaftlich verarmen. Der Vortrag von Professor Dr. Philipp Gassert im kleinen Saal der Stadthalle thematisierte die Frage, wie wir in der heutigen Situation historisch mit den Erfahrungen von Einwanderung umgehen und wie wir an diese erinnern sollten.
Der Lehrstuhlinhaber für Zeitgeschichte an der Universität Mannheim referierte auf Einladung der Volkshochschule in Zusammenarbeit mit dem Verein für Heimatgeschichte. Bürgermeister Thomas Jakob-Lichtenberg begrüßte rund 40 Zuhörer, unter ihnen den Vorsitzenden des Vereins und früheren Bürgermeister Werner Zimmermann.
Migration ist der Normalfall. Auch die Geschichte der heutigen großen Kreisstadt Hockenheim ist die Geschichte eines „beständigen Kommens und Gehens“. Migration und Integration seien Arbeit und ein immerwährender Prozess, ging der Historiker auf den Artikel unserer Zeitung über den Hockenheimer Integrationsbeauftragten Konrad Sommer ein.
Die Kenntnis der Geschichte kann keinen großen Beitrag leisten, wenn es um die praktischen Dinge geht: Das ist die Aufgabe der Stadtverwaltung und der Ehrenamtlichen. Sie kann aber sehr viel dazu beitragen, wenn es darum geht, die Herausforderungen von Migration als „normal“ und „lösbar“ zu begreifen. „Wer die Geschichte kennt, weiß, dass Integration ein permanenter, von Generation zu Generation weitergereichter Prozess ist“, führte der Historiker aus: „Historisches Wissen ist essenziell für das Selbstverständnis und die Identität einer Einwanderungsgesellschaft.“ Das müssten vor allem die „Alteingesessenen“ lernen.
Identität ist mehr als Grundgesetz
Gassert zitierte den früheren Bundespräsidenten Johannes Rau auf dem 44. Deutschen Historikertag in Halle am 10. September 2002: „Eine Identität hat ein Land aber nicht nur dadurch, dass es ein Grundgesetz, eine Verfassung hat.“ Nicht allein Mannheim ist eine Einwanderungsstadt par excellence. Der Referent zeigte Bilder von Gastarbeitern vor dem Wasserturm in den 1960er Jahren. Identität braucht Geschichte – aber welche?
Gassert sprach über „Deutschland unter der Pickelhaube“ nach der Reichseinigung 1870/71, über nationale Identifikation und Integration durch Abgrenzung und Ausgrenzung mit den Folgen Militarismus, Kolonialismus und Antisemitismus, beispielsweise praktiziert durch Mannheims „Kolonialhelden“ Theodor Bumiller (1864-1912).
Schon im Mittelalter wanderten Menschen in unsere Region ein, im 17. Jahrhundert kamen reformierte Glaubensflüchtlinge aus anderen Ländern, im 19. Jahrhundert verarmte Landfamilien aus der Pfalz und dem Odenwald. In den 1950er Jahren waren es die „Gastarbeiter“, die angeworben wurden. Nach dem Zweiten Weltkrieg trugen Flüchtlinge und Vertriebene zu einem massiven demographischen Umbruch bei. Eine Flüchtlingsunterkunft in Lünen (Westfalen) 1946 sieht fast ähnlich aus wie eine mit ukrainischen Flüchtlingen belegte Sporthalle heute.
Deutschland hatte nach dem Krieg rund zwölf Millionen Flüchtlinge, die keineswegs mit offenen Armen aufgenommen wurden. Fremdenfeindliche Pogrome gab es in den 1990er Jahren nicht nur in Ostdeutschland. In Mannheim-Schönau kam es im Mai und Juni 1992 zu mehrtägigen Ausschreitungen vor einer Asylbewerberunterkunft. Das Museum auf Ellis Island im Hafen von New York ist Erinnerungsort und Gedenkstätte der amerikanischen Einwanderungsgesellschaft.
Der barocke Torbogen des Insultheimer Hofs könnte ein Ort der Erinnerung an Migrationsgeschichte(n) in Hockenheim sein, schlug Gassert vor. Als Monument der Einwanderung, weil dort 200 Jahre lang ausländische Saisonkräfte beschäftigt waren: „Da könnte man eine Gedenktafel anbringen.“ Bei den Speyerer Ziegelwerken im Herrenteich arbeiteten im Mai 1906 über 50 Italiener.
Einem russischen Arbeiter wurde 1926 die Einbürgerung in Mannheim verweigert, weil er noch „keine 20-jährige Bewährungsfrist in Deutschland“ nachweisen konnte. Die Aufnahme in den badischen Staatsverband wurde abgelehnt. Eine Untersuchung zur Zuwanderung in Hockenheim von 1964 führt 29 Griechen, 46 Italiener, 67 Spanier, zehn Türken, 20 Österreicher, acht Niederländer, sechs Schweizer, sieben Staatenlose und 35 „heimatlose Ausländer“ auf. Die deutschen Heimatvertriebenen fehlen in der statistischen Aufschlüsselung von vor bald 60 Jahren.
Migration lasse sich „leichter ertragen, wenn es nicht als wirtschaftliche Herausforderung gesehen wird“, meinte Gassert. „Hochkarätige Migranten“, wie sie etwa bei Weltkonzernen wie SAP oder BASF in leitender Position beschäftigt sind, machen uns nichts aus. Die vielen türkischen Läden in den Mannheimer Quadraten sind Zeugnisse für die Arbeitermigration.
Zeitzeugen sammeln
Ohnehin könnten Häuser die Geschichte der Migration erzählen, nicht nur in Mannheim, so Gassert. Welche Erinnerungsorte haben wir? Wo in der Kurpfalz manifestiert sich lokal das Gedächtnis der Einwanderungsgesellschaft? Der Historiker forderte die Zuhörer auf, wichtige Quellen zu sichern und die ganz persönlichen Geschichten in den Archiven zu deponieren. Durch Zeitzeugengespräche bekäme man so in 30 bis 40 Jahren einen „großartigen Schatz“.
Einwanderung ist der Normalfall jeder Gesellschaft und die gemeinsame Geschichte aller, wurde in der regen Diskussion deutlich. „Einwanderung hat uns historisch nicht geschadet, sondern eher genützt“, schloss Gassert seinen Vortrag: „Wir sind keine ethnisch homogene Gesellschaft, sondern zusammengesetzt aus allen möglichen Herkünften. Wir alle stammen von Eingewanderten ab.“
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