Vor einer überschaubaren Teilnehmerzahl referierte der stellvertretende Vorsitzende des Bundestagsinnenausschusses Prof. Dr. Lars Castellucci über die Halbjahresbilanz der in Berlin regierenden Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP. Dieser eröffnete sein Impulsreferat mit dem Hinweis, dass Planung eben bisweilen nichts mehr sei, als der Ersatz des Zufalls durch den Irrtum.
Damit spielte er auf den Tatbestand an, dass mit der fortschreitenden Corona-Bekämpfung Putins Angriffskrieg auf die Ukraine, einer plötzlich und massiv einsetzenden Inflation und der dringend erforderlichen Abwehr einer Energiekrise in Deutschland die letzten sechs Monate Regierungsarbeit durch eine Reihe von Krisen gekennzeichnet waren und sind, die so nicht vorhersehbar waren.
Castellucci verwies aber auch darauf, dass trotz der beklagenswerten Begleitumstände die Regierung in diesen sechs Monaten bereits ein gutes Stück der im Koalitionsvertrag vereinbarten Maßnahmen in Angriff genommen habe. Beispielhaft nannte er in diesem Zusammenhang die Erhöhung des Mindestlohns, die Einführung einer Kindergrundsicherung sowie Korrektur einiger handwerklich schlecht gemachter Hartz IV-Maßnahmen durch die Einführung des Bürgergelds.
„Das hat übrigens alles auch mit Respekt vor den Bürgerinnen und Bürgern, die in Deutschland leben und arbeiten, zu tun. Alle Menschen haben den gleichen Anspruch auf Würde“, betonte der Abgeordnete, der seit 2013 gewähltes Mitglied des Deutschen Bundestags ist. Unter Hinweis auf die Notwendigkeit einer stärkeren Betonung von Grundwerten wie Respekt und Würde im Umgang mit den Bürgern sowie in der politischen Auseinandersetzung kritisierte Castellucci auch das frühere Sprachgebaren der CDU/CSU.
Sprache nicht als Waffe einsetzen
Diese habe mit Sätzen wie „Der Islam gehört nicht zu Deutschland“ oder „Die Migration ist die Mutter aller Probleme“ jeweils einige Millionen Menschen bewusst ausgegrenzt und die Gesellschaft dadurch gespalten. Dieses könne nicht der Auftrag einer Bundesregierung sein, weshalb die amtierende Koalition sich darauf geeinigt habe, Sprache nicht länger als Waffe gegen Teile des eigenen Volks einzusetzen.
Im Hinblick auf die von Bundeskanzler Olaf Scholz prognostizierte Zeitenwende sagte Castellucci: „Auch die Zeitenwende darf uns nicht einfach wieder in die Vergangenheit zurückbringen. So hat das auch der Kanzler nicht gemeint!“ Es müsse allen klar sein, dass das lange gepflegte Paradigma „Handel bringt Wandel“ nicht mehr als Basis unseres ökonomischen Weltbilds dienen könne. Dabei verwies er auf unsere Beziehungen zu Russland und China, welche dort wenig Wandel erzeugt hätten, durch die aber für uns wirtschaftliche Abhängigkeiten entstanden seien, die nun zur Last und zur Gefahr würden.
„Dieses leichtfertige und einseitige Verständnis der Möglichkeit, durch Handel Wandel auf beiden Seiten einer Beziehung zu erreichen, hat uns nun in hohem Maße erpressbar gemacht“, betonte Castellucci, der in Ermangelung eines gewählten Ausschusssprechers den Innenausschuss des Bundestags de facto führt.
Vetorecht in EU abschaffen
Auch hinsichtlich der Zukunft der Europäischen Union forderte er Veränderungen, um diese für unsere gemeinsame Zukunft so wichtige Institution schnell handlungsfähiger zu machen. „Wir können die EU nicht einfach so lassen, wie sie ist und nur immer erweitern“, betonte der SPD-Mann. Für eine innere Reform der EU sei gleichermaßen eine Abschaffung des heutigen Vetorechts wie auch eine Abkehr vom aktuellen Wechsel der EU-Präsidentschaft alle sechs Monate erforderlich.
Diese sechs Monate einer Präsidentschaftsperiode seien viel zu kurz, um etwas Sinnvolles zu erreichen. Zudem seien kleinere Mitgliedstaaten oft mit den umfangreichen und kostspieligen Herausforderungen einer EU-Präsidentschaft völlig überfordert. „Das alles schadet der Institution und schränkt deren Glaubwürdigkeit gerade bei jungen Menschen zu sehr ein“, betonte Castellucci.
In der anschließenden Diskussion mit dem Publikum wurde der Politiker nach seinem persönlichen Umgang mit der langjährigen SPD-Forderung „Keine Rüstungslieferungen in Krisengebiete!“ befragt. In erfrischender Deutlichkeit sagte Castellucci: „Diese Forderung galt für mich genau bis zum Morgen des 24. Februar 2022. Als das für uns eigentlich immer Unvorstellbare an diesem Morgen geschah, war mir schnell klar, dass wir dieses Axiom unseres Handelns nicht mehr uneingeschränkt aufrechterhalten können.“
Eine weitere Diskussion mit den Zuhörern entspann sich um die geplanten Gesetzesänderungen im Asyl- und Aufenthaltsrecht. Castellucci sprach in seiner Antwort von einem Chancen-Aufenthaltsrecht und nutzte die Gelegenheit, nochmals auf die drei Grundpfeiler sozialdemokratischen Asylrechts-Verständnisses hinzuweisen.
„Erstens helfen wir grundsätzlich Menschen, die sich auf der Flucht und mithin in einer Notlage befinden. Zum zweiten fördern wir die Migration mit dem Ziel, neue Fachkräfte für Deutschland zu gewinnen. Und drittens bleibt es ganz klar bei unserem Wunsch, ausländische Straftäter außer Landes zu bringen. Das Chancen-Aufenthaltsrecht, welches wir in mehreren Pakten einführen werden, wird genau diese Ansprüche umsetzen“, versprach der migrationspolitische Sprecher der SPD-Fraktion im Bundestag und ergänzte: „Für mich funktioniert Integration nur, wenn wir stets und gleichermaßen die Aspekte Arbeit, Sprache, Bildung und Begegnung fördern und umsetzen.“
Zum Abschluss bedankte sich der Hockenheimer SPD-Vorsitzende Jakob Breunig beim Referenten mit einem kleinen Präsent und entließ Lars Castellucci zurück nach Berlin mit der Botschaft: „Wir hätten gerne mehr Besucher gehabt. Aber lass es uns positiv sehen: Offensichtlich sind die Hockenheimer mit der Arbeit der Ampel sehr zufrieden und sehen deshalb keinen Gesprächsbedarf. Das ist doch dann auch ein Erfolg!“ zg/jb
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