Vortrag

Türkei-Wahl: Politikwissenschaftler in Hockenheim über den überraschenden Ausgang

Professor Dr. Thomas Diez analysiert die gespaltene Türkei nach der Wahl und benennt Gründe wie innere Konflikte und EU-Politik als Faktoren des Ergebnisses.

Von 
Stefan Kern
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Ein Wähler wirft seinen Wahlumschlag in eine Urne in einem Wahllokal für die türkische Präsidentschaftswahl. © Julian Stratenschulte/DPA

Hockenheim. Natürlich weiß auch Professor Dr. Thomas Diez nicht en detail, wieso die Wahl in der Türkei ausgegangen ist, wie sie ausgegangen ist. Auch er hat erwartet, dass die Opposition, um den CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu den amtierenden Präsidenten Recep Tayyip Erdogan (AKP) auf den zweiten Platz verweist. Das Land, so Dietz in seinem Vortag „Die Türkei nach der Wahl – Zwischen Autoritarismus und Aufbruch“ im Carl-Friedrich-Gauß-Gymnasium, hätte es nötig gehabt. Und eigentlich hätten es auch viele erwartet.

Dass es anders kam, hat viele Gründe. Manche davon kurzfristiger Natur, manche aber scheinen tief in der DNA der Türkei verankert zu sein. Und – ganz wichtig – manche der Gründe haben in seinen Augen mit uns zu tun, genauer der deutsch-europäischen Politik gegenüber diesem Land im Südosten Europas.

Der Vorsitzende des Freundeskreises Konrad Schillinger war sichtlich stolz, diese Koryphäe von der Universität Tübingen in die Rennstadt geholt zu haben. Was jedoch nicht so schwer gewesen sein dürfte, ist der Mann doch ehemaliger Gaußianer. Es sei schon eine Weile her, so Schillinger, aber Dietz habe hier sein Abitur absolviert. Heute ist er Professor am renommierten Institut für Politikwissenschaft in Tübingen und forscht zu Fragen rund um die politischen Beziehungen zwischen der EU und der Türkei.

Das Land ist tief gespalten

Am Tag der ersten Wahl war Dietz im Flugzeug auf dem Weg nach Istanbul. Und er verspürte Unbehagen. Es gab viele Gerüchte zu Unruhen bei einem Sieg der Opposition. Als er wieder auf dem Boden war, stand fest, dass es zu einer Stichwahl kommt und Erdogan Favorit ist. Die Autokratisierung (altgriechisch für Selbstherrschaft) des Landes sei weit vorangeschritten – vor allem im Landesinneren.

Und hier war Dietz bereits bei einem der Gründe für diesen Wahlausgang. Das Land ist tief gespalten und zwar seit Jahrzehnten. Auf der einen Seite sind die großen Städte Izmir, Istanbul und Ankara sowie die Küstengebiete und auf der anderen Seite die Menschen im Landesinneren. Dabei sei von Beginn an gegen die Menschen im Landesinneren Politik gemacht worden. Allein das laizistische Verdikt Mustafa Kemal Atatürks gegen die Religion habe auf dem Land viele Menschen von der Politik entfremdet. Erdogan sei derjenige gewesen, der diese Spaltung und die Religion als Instrument nutzte, um seine Wählerbasis zu verbreitern.

Wirtschaft vor dem Kollaps

Dem Autoritarismus zugute komme auch der Nationalismus, der für die Gründung der Republik als Nachfolgestaat des osmanischen Reiches im Jahr 1923 absolut entscheidend war. Die Identität der Menschen sei sehr stark an das Land geknüpft. Religion, Nationalismus und Identität bewirtschaftete Erdogan beeindruckend gut. So gut, dass die Menschen das wirtschaftliche aus den Augen verlören. Zumindest bei dieser Wahl stimmte das Mantra des früheren US-Präsidenten Clinton, dass es auf die Wirtschaft ankäme, nicht mehr. Die Frage der Identität schlage sozusagen die Frage der Wirtschaft. Und bei dieser sieht Dietz nichts Gutes auf die Menschen in der Türkei zukommen. Natürlich wisse man nie, was genau passiert. „Aber die Wirtschaft wird, wenn sich nichts ändert, irgendwann kollabieren.“

Eine Mitschuld an Erdogans Erfolg erkennt Dietz auch bei der EU. Zu kurzfristig und wenig strategisch sei die Politik der Europäischen Union in den vergangenen 20 Jahren gewesen. Es gab ein Zeitfenster für einen Beitritt der Türkei. Und auch wenn diese institutionelle Verflechtung nicht vor allem schütze – man denke an Polen und Ungarn – so wäre der zunehmende Autoritarismus in der Türkei so wohl nicht möglich gewesen. Aber auch jenseits dieses Feldes erkennt Dietz Fehler bei der EU, die von der verfehlten Visapolitik bis zur Flüchtlingspolitik reichen.

Weitere Gründe für den Wahlausgang seien die extrem heterogene Opposition, die von ganz rechts bis ganz links reichte und nur wenig Vertrauen genoss. Und dass es gelang, den charismatischen Bürgermeister von Istanbul Ekrem Imamoglu über die Justiz aus dem Rennen zu werfen. Am Ende waren es knapp 70 sehr eindrückliche Minuten, die die Basis für das Verstehen dieses Landes deutlich verbreiterten. Und das ist der erste und wichtigste Schritt hin zu einer konsistenten Türkei-Politik, die der Türkei wie der EU langfristig zum Vorteil gereicht.

Freier Autor Stefan Kern ist ein freier Mitarbeiter der Schwetzinger Zeitung.

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