Das sagen die Ketscher zum Krieg in der Ukraine

Von 
Marco Brückl
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Die Sonne scheint auf Hunderte ukrainische Fahnen, die zum Protest gegen die russische Invasion in der Ukraine aufgestellt wurden. © Robert Michael/DPA

Ketsch. Seit über drei Wochen dauert nun der Krieg in der Ukraine an, der Bilder und Berichte von Flüchtlingen zeitigt, die einen mitunter fassungslos zurücklassen. Wir haben uns in der Enderlegemeinde umgehört, wie die vom russischen Präsidenten Wladimir Putin ausgehende Aggression gesehen wird.

Der Krieg wirft mehrere Fragen auf – beispielsweise darüber, wie er enden könnte, wird die Ukraine dann von Russland einverleibt sein? Russland ist Atommacht, verfügt über Massenvernichtungswaffen, das schürt die Angst, dass sie bei einer weiteren Eskalation womöglich eingesetzt werden. Wir fragten auch, ob der Westen eine Mitschuld am Krieg trägt und welche Weltordnung oder -Unordnung nach dem Ende des Krieges erwartet wird. Schließlich interessierte uns, ob es Verwandte oder Bekannte gibt, die den Zweiten Weltkrieg erlebten und die eine ganz eigene Sichtweise auf diesen Krieg in Europa haben.

Darüber hinaus sei erwähnt, dass jede Fraktion beziehungsweise politische Partei, die im Ketscher Gemeinderat repräsentiert wird, die Gelegenheit hatte, sich an der Umfrage zu beteiligen.

Heino Völker, Gemeinderat (Freie Wähler): Ich rechne mit einem längeren Stellungskampf, der nicht mit der kompletten Integration der Ukraine in Russland enden wird. Die Ukraine wird eine gewisse Neutralität haben, aber selbstständig bleiben. Der Westen hat insofern eine Mitschuld, als er genau den gleichen Fehler gemacht hat wie damals vor dem Zweiten Weltkrieg. Bei Hitlers „Mein Kampf“ – das hat man nicht für möglich gehalten. Wenn man Putin ernst genommen hätte, hätte man den Krieg abwenden können. Dass Massenvernichtungswaffen eingesetzt werden, das glaube ich im Moment eigentlich nicht. Ich halte es für möglich, wenn Putin mit dem Rücken zur Wand steht. Dann könnte er in der Ukraine vielleicht eine kleinere einsetzen, aber nicht global oder auf Rest-Europa. Aus dem Ende des Krieg wird Russland deutlich geschwächt hervorgehen. Es wird schon ein wenig ein Kalter Krieg sein, aber nicht mit den gleichen Kräfteverhältnissen wie vorher. Verwandte, die den Zweiten Weltkrieg erlebten, habe ich nicht, aber wir kennen ja die Erzählungen der Eltern, die die Grundtendenz der jetzigen Machthaber so beschrieben haben, wie sie sich nun darstellt. Diese Art des Despotismus scheint dort einen anderen Stellenwert zu haben – wir sind darüber hinaus.

Bürgermeister Jürgen Kappenstein: Ein Krieg hat noch nie etwas Positives gebracht. Man kann an Krieg nichts Gutes abgewinnen – Putin hat wirklich einen an der Klatsche, anders kann ich es nicht sagen. Ob Putin Massenvernichtungswaffen einsetzt, weiß ich nicht. Ich denke, er ist fähig dazu. Aber durch den Eisernen Vorhang kann man nicht durchblicken. Ich glaube, er hat noch viel mehr Waffen, als er bisher zeigt. In der Ukraine sind seine Fußtruppen im Einsatz, die konventionellen Truppen. Und das reicht, um die Menschen in der Ukraine zur Verzweiflung zu bringen. Putin ist ein echter Aggressor. Die Ukrainer haben es bisher gezeigt, dass sie niemals freiwillig zu Russland gehören werden. Und da kann der Druck noch so groß sein, sie haben das Herz an der richtigen Stelle und kämpfen für ihre Sache. Die Nato darf im Moment keine Fehler machen. Putin wartet nur auf einen Fehler des Westens, dann kann er zuschlagen.

Gerhard Jungmann, ehemaliger Gemeinderat (SPD): Ich glaube, Russland wird die Ukraine besetzen, zumindest einen Großteil, und eine Russland-freundliche Regierung einsetzen. Ich glaube nicht, dass Putin Massenvernichtungswaffen einsetzt, aber ich habe Angst, dass sich der Konflikt noch auf andere Länder ausweiten könnte. Ob der Westen eine Mitschuld hat? – Weiß nicht, vielleicht hätte der Westen zu nicht Kriegszeiten konsequenter handeln sollen, zumindest bei den Beitrittsverhandlungen zur Europäischen Union – nicht zur Nato, da bin ich dagegen.

Ingrid Maldet, Vorsitzende der Hausfrauengemeinschaft: Putin wird die Ukraine nicht annektieren können, der Wiederstand der Bevölkerung ist zu groß. Er wird ein zerstörtes Land hinterlassen. Ja, Westen hat eine Mitschuld, denn der Westen hat Putin nicht zugehört. Er hat schon 2007 solche Äußerungen auf der Sicherheitskonferenz in München gemacht bezüglich der „Verletzung über die verlorene Weltmachtrolle“. Angst, dass Massenvernichtungswaffen eingesetzt werden könnten, habe ich, weil Putin ein unberechenbarer Machtmensch ist. Man kann es noch nicht voraussagen, aber die Weltordnung wird nach dem Ende des Krieges wahrscheinlich nicht mehr dieselbe sein. Und Verwandte von mir, die den Zweiten Weltkrieg erlebt haben, haben wieder Angst.

Andrea Lemberger, Eigentümerin des Kiosks Schmeißer: In der aktuellen Situation müssen wir auf alles gefasst sein, daher will ich die Frage zum Ende des Kriegs mit dem Wunsch oder besser der Hoffnung beantworten, dass möglichst schnell eine Waffenruhe einkehrt, die die menschliche Tragödie beendet und Zeit für Verhandlungen lässt. Denn alle Parteien müssen unbedingt wieder an den Verhandlungstisch. Und ja, ich glaube schon, dass der Westen eine Mitschuld hat, wir alle waren in Bezug auf Russland zu blauäugig und haben der Aggression Russlands – siehe Georgien und Krim – zu lange zugeschaut. Ich hoffe auf den Selbsterhaltungstrieb, der einen Einsatz von Massenvernichtungswaffen letztendlich doch nicht zulässt. Und nach dem Ende des Kriegs, denke ich, dass wir uns auf eine militärische und wirtschaftlich Neuorientierung einstellen müssen. Unsere Eltern sind mittlerweile alle verstorben, aber die Zweite Weltkriegserzählungen unserer Eltern sind mir noch sehr präsent. Keiner hätte sich vorstellen können, dass so etwas noch mal passiert.

Daniela Blaschko, im Geschäftsfüherteam des Wohnmarkts Keilbach: Es ist schwer für mich, Mutmaßungen anzustellen, wie der Konflikt enden könnte. Ich bin sehr optimistisch, der Ukraine-Krieg hat vieles bewirkt: Die Hilfsbereitschaft, dass alle sich gegen diesen Krieg geäußert haben, das ist für mich überwältigend. Putin hält sich in keinster Weise an das, was er ausspricht, das wiederum ist sehr beunruhigend. Weltordnung, Unordnung, hier kommt ein Umdenken, das schon bei der Pandemie stattgefunden hat und weiter wächst. Wie abhängig wir von China geworden sind, die Auswirkungen sind bei der Pandemie schon sichtbar geworden. Der Krieg in der Ukraine hat für uns im Möbelhandel spürbare Lücken hinterlassen, bei einigen Produkten wird die Produktion eingestellt, weil das Material aus Russland oder Ukraine stammt oder sich die Produktionsstätten dort befinden. Angst, dass es eskalieren kann? Natürlich, doch ich appelliere an einen gesunden Menschenverstand. Ich hoffe, dass wir wieder mehr an Qualität und Werten festhalten, was sichtlich in Vergessenheit geraten ist.

Chris Brocke, Gemeinderat (FDP): Ich denke, der Konflikt wird damit enden, dass die Ukraine, ähnlich wie Österreich, seine Neutralität in der Verfassung erklärt und die Krim als Gebiet der Russischen Föderation anerkennt, vielleicht auch die Existenz der „Volksrepubliken“. Diese Lösung wäre am nächsten an den aktuellen russischen Forderungen. Sollte sich der Krieg weiterhin in die Länge ziehen, wird die russische Regierung auf die Anerkennung der „Volksrepubliken“ verzichten; die Krim und die Neutralität der Ukraine sind Forderungen, auf die die russische Regierung vermutlich keinesfalls verzichten wird. Die Ukraine zu annektieren oder die Regierung zu stürzen, wird nicht möglich sein – das weiß aktuell vermutlich auch die russische Regierung. Ob der Westen auch Schuld hat? Kurz: jein. Lang: Dem „Westen“, im Folgenden als Synonym für die Nato-Mitglieder, war die Einstellung Putins gegenüber ihm selbst hinreichend bekannt. Es wurde oft genug Drohungen seitens Russlands im Hinblick auf insbesondere die militärische Expansion der Nato und insbesondere der USA ausgesprochen. Gerade die Situation in der Ukraine 2013/14, in der insbesondere das US-Außenministerium und die Nato die Proteste finanziell unterstützen, und die Annäherung der Ukraine an den Westen bis heute, weckten sicherlich Ängste in der russischen Regierung. Für die Regierung in Moskau wäre es schließlich der Worst Case, wenn nach einen solchen Regierungswechsel in der Ukraine ein demokratischeres und eventuell wohlhabenderes Land entsteht, welches im Zweifelsfall den „Feind“ im Land beherbergt. Russische Einmischungsversuche in Wahlen in verschiedenen Ländern haben gezeigt, dass wir auf ausländische Einflussnahme und Finanzierung im politischen System auch nicht erfreut reagieren. Diese Punkte rechtfertigen aus meiner Sicht durchaus eine Ablehnung des „Westens“ durch die russische Regierung; eine militärische Intervention und das Losbrechen eines Krieges rechtfertigen sie selbstverständlich nicht. Wenn wir uns an unsere Aussagen, nicht militärisch zu intervenieren halten, halte ich die Wahrscheinlichkeit des Einsatzes von Massenvernichtungswaffen für eher gering. Ich denke, wir werden zurückkehren zu einer Aufrüstungsspirale und der Spaltung der Welt in chinesische und amerikanische Blöcke. Russland und China werden vermutlich näher zusammenrücken. Einen neuen Kalten Krieg halte ich für möglich.

Michael Seitz, Gemeinderat (CDU): Im Moment gehe ich davon aus, dass die Ukraine, um den Konflikt zu beenden, bestimmte Gebiete abgeben muss. Dort wird dann Russland eigene pro-russische Regime, ich nenne sie bewusst nicht Regierungen, einsetzen. Auf diese Weise könnte dann Putin, seiner Ansichten nach, sein Gesicht wahren und gewisse Erfolge vorweisen. Hat auch der Westen Schuld? Ganz schwierige Frage. Die Antwort ist sehr facettenreich und muss aus mehreren Blickrichtungen beleuchtet werden. Jedem Volk, jedem Staat obliegt das Recht, auf welche Weise und in welchem System es/er sich organisieren möchte. Diese Entscheidung muss auch durch das Volk mehrheitlich entschieden werden. Dabei ist jedoch äußert vorsichtig und umsichtig vorzugehen und den Sicherheitsinteressen aller Nachbarstaaten Rechnung zu tragen. Hier hatte ich nicht genügend Einblick, um eine genaue Beurteilung abzugeben. Einen Angriffskrieg und solches Leid zu verursachen, ist jedoch auf jeden Fall keine Option, um etwaige Gegensätze aus der Welt zu schaffen und zukünftig in Frieden miteinander zu leben. Massenvernichtungswaffen? Angst habe ich weniger. Zum Glück habe ich noch keinen Krieg am eigenen Leib erfahren müssen. Ich weiß jedoch, dass sich Mitbürger, die den Zweiten Weltkrieg miterlebt haben, sich sehr sorgen. Auch für Putin ist ein Ausweitung des Konfliktes wohl keine Option, da es dann auch keinen Gewinner geben würde. Aber gibt es jemanden, der in seinen Kopf schauen kann? Weltordnung? Die gleiche wie jetzt. Das ist ja das sinnlose am Krieg. Auch hinterher werden sich die gleichen Staaten gegenüber stehen. Krieg erlebt haben meine Eltern. Mein Vater sogar von 1940 an als Soldat. Mein Vater muss es nicht mehr miterleben. Meine Mutter sorgt sich auch sehr. Mein Vater hätte jedoch jegliche Ausübung von Gewalt verurteilt, das konnte ich aus seinen Schilderungen entnehmen. Er hat zwei Brüder im Zweiten Weltkrieg verloren.

Erwin Bertsch, katholischer Pfarrer: Wissen, wie der kriegerische Konflikt enden wird, kann ich nicht, aber ich hoffe, dass Putin dann ein für alle mal Geschichte ist. Ich könnte mir vorstellen, dass die Menschen in Russland immer mehr erfahren und es zu einer innerrussischen Bewegung gegen Putin kommt. Zurzeit habe ich das Gefühl, dass der innerrussische Widerstand wächst, denn die Menschen spüren die Sanktionen, es kommen immer mehr Soldaten tot zurück und die Leute müssten merken, dass der Staat ihnen etwas verheimlicht, wenn sie alle nicht linientreue Medien abschalten. Die Jugend merkt es und sie müssen es den Unwissenden weitersagen. Dass auch der Westen eine „Mitschuld“ hat, glaube ich eher nicht. Man hat ja immer mit ihm gesprochen und Putin fast schon hofiert. Er ist aber ein Machtmensch mit einem sehr einseitigen Menschen- und Geschichtsbild. Es ist ihm nichts zu heuchlerisch, um seine Ziele zu erreichen, so auch seine demonstrative Nähe zur orthodoxen Kirche, die jetzt natürlich hin- und hergerissen ist zwischen dem, was sie eigentlich zum Thema Krieg sagen müsste und dem Wohlwollen Putins. Ja, ich habe Angst, dass der Krieg eskalieren könnte. Ich glaube zwar nicht, dass Massenvernichtungswaffen zum Einsatz kommen. Der Preis wäre zu hoch für Putin. Aber man weiß nicht, was in seinem irren Kopf vor sich geht und welche Pläne er vielleicht im Blick auf die baltischen Staaten verfolgt. Die Weltordnung wird auf jeden Fall eine andere sein. Ich hoffe, dass dieser Zusammenhalt des Westens über den Konflikt hinaus bewahrt wird. Ich hoffe auch, dass Russland ein anderes Land sein wird, freier und demokratischer. Ich habe niemand mehr, der den Zweiten Weltkrieg miterlebte, aber mein Vater war im Krieg und andere Verwandte. Als Priester hatte ich oft schon Kontakt mit Menschen, die im Krieg waren. Sie haben darauf sehr unterschiedlich reagiert. Ich habe eigentlich sehr wenige getroffen, die ein etwas differenzierteres Verhältnis zu ihren Kriegserfahren hatten. Sehr wenige haben den Krieg und ihre Heldentaten glorifiziert.

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